009 - Der Engel von Inveraray
die Hand auf seinen Ärmel. Unter dem Stoff spürte sie die Wärme und die Härte seiner Muskeln. Sie wollte ihn fester umfassen, fühlen, wie seine Muskeln sich unter ihrer Hand anspannten. Genevieve widerstand dem Drang und lockerte ihren Griff stattdessen, bis ihre zitternden Finger das fein gesponnene Tuch seines dunklen Rocks kaum noch berührten.
„Mr. Humphries, welch ein Vergnügen, Sie zu sehen!" sagte sie, als sie den Salon betraten. „Ich möchte Ihnen meinen Gatten vorstellen, Mr. Maxwell Blake. Maxwell, das ist Mr. Gerald Humphries, Direktor der hiesigen Niederlassung der Royal Bank of Scotland."
Mr. Humphries war ein runzliger kleiner Mann mit dürren Beinen, die kaum in der Lage schienen, seinen in einen weiten Mantel und schlotternde Hosen gehüllten schmächtigen Körper zu tragen. Sein schütteres weißes Haar war akkurat über dem linken Ohr gescheitelt, mühsam über den glänzenden rosa Schädel gekämmt und dann mit reichlich Pomade in Form gebracht worden. Leider waren einige der schlüpfrigen Strähnen verrutscht, und es sah aus, als durchstoße sein Kahlkopf einen faserigen weißen Helm. Er benötigte einen glänzenden schwarzen Gehstock, um sich aus dem Sessel zu erheben, den Oliver ihm angeboten hatte, und beim Aufstehen begann er so heftig zu zittern, dass Haydon fürchtete, er würde stürzen.
„Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Humphries", meinte Haydon und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, um ihn stützen zu können, falls der greise kleine Gnom vornüber fallen sollte.
Mr. Humphries schloss seine klauenartigen Finger um Haydons Hand und hielt sich daran fest. „Die Freude ist ganz meinerseits, Sir", antwortete er vergnügt und betrachtete Haydon mit seinen alten, doch wachen dunklen Knopfaugen. „Als ich hörte, dass Sie unsere gute Miss MacPhail geheiratet haben, habe ich mir gesagt, das muss ein guter Mann sein, der eine so schwere Bürde auf sich nimmt. Ein Mann mit Prinzipien. Ein großzügiger Mann. Und, darf ich wohl behaupten, ein Mann von beträchtlichem Vermögen." Er zwinkerte Haydon zu.
„Gewiss, Miss MacPhail ist außergewöhnlich reizend", fügte er rasch mit einem wohlwollenden Lächeln in Genevieves Richtung hinzu, „doch nur ein bemerkenswerter Mann nimmt nicht nur ihre Schönheit wahr, sondern auch die all dieser Kinder. Mittlerweile sind es sechs an der Zahl, nicht wahr? Und Sie sind so jung." Er wirkte ein wenig neidisch, als er Haydon von oben bis unten musterte. „Sie haben noch so viele Jahre vor sich. Ehe, Kinder, Geld." Er schüttelte den Kopf, beinahe überwältigt von so viel Glück. „Sie sind eine beneidenswerte Frau, Mrs. Blake, dass Sie diesen stattlichen Ritter hier gefunden haben. Ich wünsche Ihnen und Mr. Blake noch viele glückliche Jahre."
„Vielen Dank, Mr. Humphries." Genevieve versuchte, geduldig zu bleiben, während der Bankdirektor die Freuden des Ehestandes lobte. Dass Mr. Humphries persönlich bei ihr vorbeischaute, konnte nur bedeuten, dass es ein Problem mit ihrem Konto gab. Sie nahm auf dem Sofa Platz und spürte, wie sich ihr Rücken verspannte.
„Dürfen wir Ihnen eine kleine Erfrischung anbieten?"
Er fuchtelte mit seinen knorrigen Fingern. „Nein danke! Ich möchte die Jungvermählten nicht zu lange aufhalten. Meine einzige Absicht war, Ihnen meine Glückwünsche auszusprechen und Sie und Ihren Gatten über eine kleine Entwicklung bezüglich Ihres Bankkontos aufzuklären." Er gestattete Haydon, ihm wieder in den Sessel zu helfen.
„Und welche wäre das?"
„Ihr Konto ist bedauerlicherweise leer."
Genevieve blickte ihn entsetzt an. „Aber ... das ist nicht möglich ... Ich habe erst vor zwei Wochen eine beträchtliche Summe eingezahlt. Es war genügend Geld für mindestens vier Monate darauf vorhanden."
„So war es auch", bestätigte Mr. Humphries. „Ich habe die Summe selbst gebucht." Er lächelte Haydon zu und entblößte dabei eine Reihe brüchiger gelber Zähne. „Ich mag es bis zum Bankdirektor gebracht haben, doch um besondere Kunden wie Ihre reizende Gattin kümmere ich mich nach Möglichkeit persönlich. Nun, ich kenne sie von der Wiege an, habe alle Konten ihres Vaters verwaltet, Gott hab ihn selig. Ein höchst einnehmender und gebildeter Mann, ja, das war er, Viscount Brynley, und so stolz auf seine hübsche kleine Tochter ..."
„Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Mr. Humphries", sagte Genevieve, die Hand besorgt um die Armlehne des Sofas geklammert, „doch was ist mit meinem
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