009 - Der Engel von Inveraray
anzublicken. „Seit Sie Charlotte aus dem Gefängnis holten, haben Sie ihr ein warmes Zuhause, ordentliche Mahlzeiten und eine liebevolle Familie geschenkt. Vielleicht ist es Ihnen nicht bewusst, doch damit haben Sie Charlotte etwas gegeben, das sie vorher nicht besaß: Hoffnung. Und Sie demonstrierten ihr durch Ihr eigenes Beispiel, dass Frauen stark, mutig und ausdauernd sein können, was ihr helfen wird, die nächsten Tage zu überstehen."
„Doch was ist mit den nächsten Jahren? Charlotte ist den Härten und Grausamkeiten nicht gewachsen, denen sie in einer Besserungsanstalt ausgesetzt sein wird ..."
„Heute Nacht ist es Ihnen nicht gelungen, ihre Freilassung zu erwirken, doch damit ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch lange nicht gesprochen", versicherte ihr Haydon. „Auch wenn wir uns keinen anständigen Anwalt leisten können, so haben wir doch immerhin die Möglichkeit, den Pflichtverteidiger zu unterstützen. Wir werden dem Gericht beweisen, dass Charlotte bis zu diesem Zwischenfall ein Musterbeispiel an Wohlerzogenheit war. Wir müssen zwar darauf achten, die anderen Kinder nicht mit hineinzuziehen, doch ich werde klarstellen, dass Charlottes Rolle in dieser unglücklichen Begebenheit in Wahrheit sehr klein war und es sich um eine Angelegenheit handelt, die am besten von den Erziehungsberechtigten gelöst werden sollte. Des Weiteren werde ich darlegen, dass der Gesellschaft nicht damit gedient ist, Charlotte ins Gefängnis zu schicken, da dies nur Steuergelder kostet und es sie um ihre Zukunftsaussichten bringt. Das weiseste Urteil wäre demnach, sie nach Hause zu entlassen, wo man sie auf geeignete Weise bestrafen und von weiteren Fehlern abhalten wird."
Genevieve betrachtete ihn durch einen Schleier von Tränen. „Sie dürfen mich nicht in den Gerichtssaal begleiten, Haydon ... jemand könnte Sie dort erkennen."
„Diese Gefahr nehme ich auf mich", entgegnete Haydon knapp. „Als Ihr frisch angetrauter Ehemann und Charlottes Stiefvater ist das Gericht gewiss bereit, mich anzuhören - und sei es auch nur aus purer Neugier, weil der Richter erfahren möchte, was ich zu sagen habe. Da ich des Mordes bezichtigt wurde, fand meine Verhandlung vor dem Bezirksgericht statt, das hier nur zweimal im Jahr zusammenkommt, wenn ich mich nicht täusche. Selbst wenn einige Mitglieder des hiesigen Gerichts an der Verhandlung teilgenommen haben sollten ... ich kann Ihnen versichern, dass ich auf Grund des Überfalls, der Krankheit, der Gefängniskluft und meines verwahrlosten Äußeren kaum Ähnlichkeit mit dem Mann hatte, der jetzt hier vor Ihnen steht. Außerdem habe ich auf Anraten meines Anwalts nichts zu meiner Verteidigung vorgebracht. Daher ist es wenig wahrscheinlich, dass einer der Anwesenden meine Stimme wieder erkennt."
„Aber ..."
„Die Angelegenheit ist erledigt, Genevieve." Haydon war unerbittlich. „Ich habe nicht die Absicht, irgendjemandem zu gestatten, Charlotte ins Gefängnis zu werfen, oder Sie allein zum Gericht gehen zu lassen. Wir werden diese Sache gemeinsam durchstehen und dafür sorgen, dass Charlotte wohlbehalten nach Hause zurückkehrt. Ist das klar?"
Im flackernden Feuerschein wirkten seine Züge scharf geschnitten. Er kam ihr vor wie eine gemeißelte Skulptur aus Licht und Schatten. Die Falten zwischen seinen dunklen Brauen waren tief, so wie jene, die seine Stirn zerfurchten. In seinem Gesicht spiegelte sich Schmerz - und eine Gefühlstiefe, die Genevieve überraschte.
Sie hatte zwar gespürt, dass Haydon Charlotte lieb gewonnen hatte, hätte jedoch nicht erwartet, dass ihm das Schicksal eines Kindes, das er erst seit einer guten Woche kannte, so sehr am Herzen lag.
Während sie ihn betrachtete, begriff sie plötzlich, dass er auf etwas reagierte, das lange vor seiner Ankunft in Inveraray geschehen war. Etwas, das ihn tief verletzt hatte. Es gab so vieles an ihm, das sie nicht wusste, doch in diesem flüchtigen, vom Feuerschein erhellten Augenblick war ihr, als verstünde sie ihn besser als er sich selbst. Sie wollte ihm die Hand auf die Wange legen und seine warme Haut spüren, mit den Fingern über die dunklen Bartstoppeln streichen, sich zu ihm neigen und seinen warmen Atem auf ihrer Haut fühlen, gerade so, wie in jenen langen Nächten, als er ganz ihr gehört hatte.
Unfähig, sich länger zurückzuhalten, beugte sie sich vor und drückte ihre Lippen auf die seinen.
Eine Woge des Verlangens brandete in Haydon auf. Es war nur ein zaghafter kleiner Kuss,
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