009 - Der Engel von Inveraray
würde er in der Hölle schmoren, als dies noch einmal zu tun.
8. KAPITEL
Das Gericht von Inveraray war ein Gebäude von schlichter Eleganz aus beigefarbenen Steinblöcken mit hohen Fenstern. An dem kalten, wolkigen Dezembertag, an dem Charlottes Verhandlung stattfand, fiel kein einziger Strahl Sonnenlicht durch diese Fenster, wodurch es im Gerichtssaal nicht nur düster, sondern auch empfindlich kühl war. Der Richter, die Anwälte und die Gerichtsbeamten trugen alle eine extra Schicht Kleidung unter ihren schwarzen Roben. Mit ihren vergilbten, schlecht sitzenden Allongeperücken und den zerknitterten bauschigen Talaren erinnerten sie Genevieve an eine Schar gelangweilter Mastenten, die darauf warteten, gerupft und zum Braten aufgespießt zu werden.
„... und seit jenem entsetzlichen Tag hatte ich keinen unbeschwerten Augenblick mehr, weder in meinem Laden noch auf der Straße, nicht einmal nachts in meinem eigenen Bett", jammerte Mr. Ingram. „Diese jungen Halunken haben mich so schwer misshandelt, dass ich ständig unter Schmerzen leide. Der Arzt hat mir mitgeteilt, sie würden mich bis an das Ende meiner Tage plagen." Er rieb sich über seinen grauen Schädel und zuckte zusammen, als werde er just in diesem Augenblick von Schmerzen heimgesucht, und warf dem Richter dann einen gequälten Blick zu.
„Vielen Dank, Mr. Ingram", sagte Mr. Fenton. Der Staatsanwalt war ein blässlicher Mann mit einer spitzen Hakennase, unter der er einen riesigen hummerroten Schnurrbart zur Schau trug. „Sie dürfen sich setzen."
Mr. Ingram humpelte so langsam und steif wie möglich zu seinem Platz auf den harten Holzbänken, wo das Publikum saß. Genevieve konnte nur mit Mühe dem Drang widerstehen, laut ,Feuer!' zu rufen, um zu sehen, wie flink er aus dem Gebäude flüchten würde. Als sie ihm vor drei Tagen einen Besuch abgestattet hatte, war er lebhaft mit den Armen fuchtelnd in seinem Laden umhergelaufen, um ihr die Schäden zu zeigen. Seine körperlichen Gebrechen mussten ihn seither auf geheimnisvolle Weise quasi über Nacht befallen haben.
Sie schaute zu Charlotte hinüber, die mit auf dem Schoß gefalteten Händen kerzengerade auf der Anklagebank saß. Die langen Tage der Gefangenschaft hatten alle Farbe aus ihrem Gesicht weichen lassen, und ihr Teint wirkte beinahe durchscheinend, während sie schweigend zuhörte, wie die Zeugen gegen sie aussagten. Genevieve hatte ihr ein Kleid aus dunkelgrüner Wolle mitgebracht, das nicht besonders gut passte, doch sauber und angemessen schlicht war. Eunice und Doreen hatten es an den Ärmelaufschlägen mit einer Rüsche aus schneeweißer Spitze verziert, die von einem von Genevieves alten Kleidern stammte, und so dazu beigetragen, dass Charlotte nicht wie das verwahrloste Gassenkind aussah, als das Mr. Ingram und Lord und Lady Struther sie darstellten. Ihr kastanienbraunes Haar war sorgfältig gekämmt und wurde von einem smaragdgrünen Satinband aus dem Gesicht gehalten. Genevieve hatte Wert darauf gelegt, dass Charlottes Antlitz und ihre Hände gründlich mit parfümierter Seife abgeschrubbt und dann mit Eunices spezieller Hautcreme eingerieben wurden, damit sie weich und damenhaft zart wirkten. Äußerlichkeiten waren von entscheidender Bedeutung, wenn man vor dem Richter stand, und Genevieve wollte, dass Charlotte von Kopf bis Fuß das Bild der zarten jungen Dame abgab, die weder ins Gefängnis noch in eine Besserungsanstalt gehörte.
„Wenn es dem Gericht beliebt, Euer Ehren, würde die Verteidigung nun gern Mrs.
Maxwell Blake in den Zeugenstand rufen", sagte Mr. Pollock, der Verteidiger.
Der Richter beugte sich müde über seine Bank, stützte sein fleischiges Kinn auf die Hand und nickte. Seine erhöhte
Position gewährte ihm zwar einen hervorragenden Blick auf alle Anwesenden im Saal, hatte jedoch den entscheidenden Nachteil, ihn der ständigen Beobachtung auszusetzen und ihn daran zu hindern, für ein paar Minuten die Augen zu schließen.
Er hatte an jenem Tag bereits fünf Verhandlungen hinter sich, denen noch sechs weitere folgen sollten. Hinzu kam, dass er seit dem Mittagessen an höchst unangenehmen Verdauungsstörungen litt und keinerlei Geduld für die theatralischen Auftritte der Anwälte und Zeugen aufzubringen vermochte. Im Augenblick wollte er nichts anderes als eine schöne, belebende Tasse Tee und vielleicht einen süßen Haferkuchen, um seinen Magen zu beruhigen. Erst muss dieser Fall verhandelt werden und danach noch jener mit der
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