0092 - Das Testament des Detektivs
Mund ab. Eine wirklich erstklassige Mahlzeit hatte man ihm da serviert. Allerdings, dachte er bitter, die vielen Jahre hinter Gittern haben mich nicht gerade verwöhnt. Das Essen, das ich Tag für Tag in meinen Blechnapf geschlagen bekam, war nicht dazu da, gut zu schmecken, oder gar den Gaumen zu kitzeln. Nein, es hatte nur den einen Zweck, einem Mann eine bestimmte Menge Kalorien, Vitamine und was es da sonst noch gab auf die einfachste Art und Weise zuzuführen.
Unwillkürlich blickte Stick hoch. Der Raum, in dem er sich befand, hatte keine Gitter vor den Fenstern. Oder vielleicht doch? Er konnte es nicht feststellen, denn dicke, graue Vorhänge verhüllten die Fenster und breiteten ein träges, dämmriges Licht im Zimmer aus. Es lockte ihn, die Vorhänge wegzuziehen und hinauszublicken. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Nicht das geringste Geräusch war zu hören. Oder täuschte er sich? War da nicht ganz ferne das Rauschen der Großstadt zu vernehmen? Wenn er angestrengt horchte, sagte er ja. Das mußte es sein: Autos, Omnibusse, anfahrende Bahnen, Sirenen, Lautsprechergeheul, alles zusammengemixt zu einem undefinierbaren Cocktail von Geräuschen. Dann aber dachte er wieder, er täusche sich doch. Alles sei totenstill, ringsum.
Die letzten zwanzig Stunden hatten ihm Rätsel auf Rätsel gebracht. Nicht einen Bruchteil dessen, was mit ihm geschah, hatte er begriffen. Kaum ein Gesicht hatte er erkannt. Er wurde geschoben, gepackt, gezerrt, er wurde in Kisten verpackt, verladen. Er erinnerte sich an eine Auseinandersetzung, deren Ohrenzeuge er in seinem Versteck gewesen war. Er folgte gehorsam, den Anweisungen, die man ihm gab. Er lächelte bei dem Gedanken an den Aufzug, in dem er mit jener Dame das Haus betreten mußte, das er Stunden später verpackt wie eine halberstarrte Leiche wieder verließ. Was sollte dies alles?
Ein Geräusch weckte ihn aus seinen Gedanken.
»Stick Candler!« Die Stimme klang, als ob sie aus einem Lautsprecher komme. Stick hatte sie noch nie gehört.
»Ja«, antwortete er heiser.
»Komm her«, forderte ihn die Stimme auf. »Setz dich dort in den Sessel, dann höre ich dich besser.« Stick gehorchte, aber soviel er auch um sich blickte, er konnte kein Mikrofon entdecken. Aber anscheinend wurde er nicht nur gehört, sondern auch gesehen, denn die Stimme fuhr fort:
»Such nicht nach dem Mikrofon, Stick, du findest es nicht. Suche überhaupt nicht zuviel. Es sei denn, du bekommst dazu einen Auftrag.«
Das klang hart und brutal. Mit dem Sprecher war nicht zu spaßen. Stick verstand.
»Was soll ich hier? Kommen wir zur Sache!«
»Ich dachte, du würdest dich erst einmal bedanken, daß wir dich aus dem Bau herausgeholt haben.« Stick antwortete nicht. Nach einer Weile fuhr der unbekannte Sprecher fort:
»Also gut. Kommen wir zur Sache. Du warst ein Freund des Henkers.«
Stick lachte. »Freund? das ist gut. Das habe ich selbst noch nicht gewußt. Ich habe mit ihm und für ihn gearbeitet. Das ist alles.«
»Gleichgültig, wie du es nennst. Du warst sein Vertrauter.«
»Vertrauter?« Stick mußte wieder lachen. »Hatte er einen Vertrauten? Niemand wußte, wer er war. Niemand kannte ihn. Selbst seine Stimme war immer eine andere. Ich habe seine Befehle ausgeführt. Mehr nicht.«
»Du hast ihn gedeckt, als du vor dem Gericht aussagtest und Pat Gloomy beschuldigtest.« Scharf und kalt schleuderte die Stimme ihm jetzt die Worte entgegen.
»Ich habe die Wahrheit gesagt. Gloomy war der Henker.« Candler blieb ruhig.
»Er war es nicht. Ihr habt gelogen.«
»Ihr scheint es besser zu wissen. Ich habe gesagt, was mir aufgetragen war. Gloomy hat nicht widersprochen.«
»Er wurde vergiftet«, sagte die Stimme.
Stick biß sich auf die Lippen. »Das habe ich nicht gewußt.«
Eine Weile war es still. Dann fuhr der unsichtbare Sprecher fort: »Ihr sollt mir helfen den Henker zu suchen. Ihr kennt ihn. Ihr könnt mich auf seine Spur bringen.« Candler atmete schwer.
»Und weshalb?«
»Das wird sich finden. Es wird nicht dein Schaden sein. Ich habe einen Plan, und die Hauptarbeit leistet uns dabei der Henker. Sind wir geschickt genug, so ernten wir die Früchte.«
Candler war erregt. Errang nach Worten.
»Ich kenne den Henker nicht. Niemand kennt ihn. Niemand sah je sein Gesicht. Nur eines kenne ich: seine Taten. Lassen Sie die Finger von ihm. Er wird Sie aufhängen, bevor sie ihn je zu Gesicht bekommen haben. Er hat mehr in seinem Hirn als ein ganzer Generalstab. Und…« —Candler
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