Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
Quellenauswahl und editorische Prinzipien
Der Gesamtumfang der Protokolle, die die Historikerkommission um Isaak Minz von den Gesprächen mit den 215 Zeitzeugen der Schlacht von Stalingrad anfertigte, beträgt mehrere tausend schreibmaschinengetippte Seiten. Diese werden in der vorliegenden Edition auszugsweise gezeigt. [276] Die ausgewählten Gespräche und Gesprächspassagen sind dabei so angeordnet, dass sie zum einen das Schlachtgeschehen räumlich und als kollektive Erfahrung vieler beteiligter Akteure aufzeigen und zum anderen die individuelle Vielfalt der Zeitzeugen, ihrer jeweiligen Funktionen, Perspektiven und Ausdrucksformen akzentuieren.
Eine Besonderheit der von den Moskauer Historikern gewählten Interviewmethode bestand darin, dass sie zahlreiche Angehörige einer und derselben Einheit – einer Division, eines Regiments oder einer Fabrik – interviewten. So schufen sie eine Fülle von Gesprächsprotokollen, die in ihrer Gesamtheit ein lokales Geschehen umfassend und in großer Detailschärfe ausleuchteten. Diese Dreidimensionalität erschließt sich jedoch nicht, wenn man die einzelnen Interviews nacheinander liest. Daher wurde für dieses Buch eine Darstellungsmethode gewählt, die den gemeinsamen Erfahrungsraum von Zeitzeugen aus einer bestimmten Einheit sichtbar macht und Schnittstellen, Übereinstimmungen und Widersprüche zwischen den jeweiligen Interviews freilegt. Die Methode besteht in der Bündelung von individuellen Aussagen zu gemeinschaftlichen Gesprächssträngen, die chronologisch und räumlich angeordnet sind.
So wird etwa der Stalingrader Kriegszug der 308. Schützendivision aus der Perspektive zahlreicher Kommandeure und einfacher Soldaten als ein einheitliches Gesamtgeschehen gezeigt, zu dem jeder Beteiligte aus seiner jeweiligen Perspektive beiträgt. Während besonderer Kampfhandlungen wie den Kämpfen vom 18. September 1942, als die Division unter hohen Verlusten eine wichtige Höhe erkämpfte, verdichtet sich die Darstellung, weil jeder der befragten Zeitzeugen diesen intensiven Moment der Schlacht um Stalingrad erinnert.
Die Erzählungen von Vertretern der Stalingrader Stadtverwaltung, von Parteifunktionären, Ingenieuren, Militärs und einer Küchenangestellten schildern mit reichen Schattierungen das Schicksal der Stadt und ihrer Bevölkerung vom Juli 1942, als überstürzte Arbeiten zur Befestigung der »Frontstadt« begannen, bis zum Frühjahr 1943, als die aus der Evakuierung zurückgekehrten Ingenieure den Wiederaufbau der zerstörten Betriebe planten. Der Gesprächsknoten offenbart interessante Spannungen zwischen Zivilfunktionären und Militärs, die jeweils die andere Seite für Mängel bei der Verteidigung der Stadt und der Evakuierung der Bevölkerung verantwortlich machten.
Obwohl die Zeitzeugen einzeln interviewt wurden und in manchen Fällen Interviews im Abstand von mehreren Monaten geführt wurden, erzeugt ihre Zusammenlegung aufgrund der Einheit von geschilderter Zeit, Ort und Handlung einen stimmigen Effekt. Die intensiviert dargestellten Ereignisse, Gedanken und Gefühle lesen sich nicht nur packend, sondern wirken auch plausibel, eben weil die wechselnden Gesprächspartner einander bestätigen und ergänzen. Eine Anregung zu dieser Art der Montage bot der Film Rashomon von Akira Kurosawa. Der Film ruft vier an einem Verbrechen beteiligte Figuren in den Zeugenstand. Jeder von ihnen rechtfertigt sich vor Gericht und liefert eine filmisch wiedergegebene Version des Geschehens, die der Darstellung der anderen Zeugen widerspricht. Der Film verwendet die Montagetechnik, um über die Unzuverlässigkeit subjektiver Aussagen zu reflektieren, die primär von persönlichen Interessen motiviert seien. [277] Im Gegensatz zu Rashomon frappieren die Interviews der Stalingrader Zeitzeugen jedoch durch ihre häufige Entsprechung bis ins Detail. Sie enthalten nicht nur die gleichen Vorstellungen von Heldentum, Angst und Selbstverwirklichung, sondern stimmen auch in der Wiedergabe von Kampfhandlungen und Verhaltensweisen im Krieg überein.
Diese Übereinstimmungen machen zum einen deutlich, dass sich die geschilderten Ereignisse tatsächlich zugetragen haben müssen und nicht von einem sowjetischen Propagandaapparat nachträglich erfunden worden sind. Zum anderen unterstreichen sie den Sinngehalt der in den Interviews wiederholt verwendeten Sprechformen. Es kann nach der Lektüre der Stalingrader Protokolle nicht mehr behauptet werden, dass das öffentliche
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