01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
Flugzeugen und anderen Dingen träumte, für die sich Jungen auf dem Land üblicherweise interessieren, so war ich gleichwohl nur einer von Millionen faktenversessenen, wußtest-du-eigentlich, Tatsache-ist, kaum-jemand-weiß kleinen Klugscheißern, die ihre Umwelt plagen, seit Gutenberg die erste bewegliche Letter »a« schnitzte, was, wie jeder eingebildete Fatzke wie ich weiß, um das Jahr 1436 in Straßburg geschah.
Mit der Vorstellung meines Vaters von Klugheit, Arbeit und Geist hatte ein solcher Verstand wenig zu tun. Das erste und dringlichste Problem allerdings war, hinter den Grund für mein obsessives Stehlen zu kommen.
Es wurde entschieden, mich zu einem Psychiater zu schikken, einen Mann namens Gerard Vaughan, der später Gesundheitsminister wurde und meines Wissens bereits zu der Zeit für die Konservativen im Parlament saß. Er war von einem Freund meiner Eltern empfohlen worden, Tommy Stuttaford, damals Arzt und ebenfalls Parlamentsmitglied, inzwischen aber von der ›Times‹ angeheuert, um Fußnoten zu sämtlichen Artikeln beizusteuern, die auch nur im entferntesten mit Medizin zu tun haben: ›Private Eye‹ ziehen ihn in ihrer Kolumne »Der medizinische Rat« gnadenlos durch den Kakao. Das Schulmagazin in Stouts Hill hätte ihn als »Experten« mit so vielen Gänsefüßchen bezeichnet, wie der Setzer nur auftreiben konnte.
Vaughans Praxis befand sich im Guy’s Hospital in London, wo mein Vater und ich ihn aufsuchten.
Ich mußte einige Bender-Gestalttests ausfüllen, ein oder zwei Rorschach-Kleckse interpretieren und eine Reihe Fragen beantworten. Mein Stehlen war einigermaßen irritierend für Vaughan, da es seiner Meinung nach besser zum Sohn eines Diplomaten oder Soldaten paßte. Offenbar kamen stehlende Teenager häufig aus Familien, die ständig den Wohnsitz wechselten. Deshalb paßte es Vaughan ganz und gar nicht in den Kram, daß ich aus einem grundsoliden Elternhaus stammte.
Zu guter Letzt wurde mein Problem als »Entwicklungsverzögerung« diagnostiziert – geistige Reife in Kombination mit emotionaler Unreife: Intellektuell befand ich mich auf dem Stand eines Sechzehnjährigen, seelisch auf dem eines Zehnjährigen, und beides kollidierte im Körper eines verwirrten Vierzehnjährigen, was unweigerlich zu Konzentrations-, Anpassungs- und Selbstfindungsschwierigkeiten führen mußte. Heutzutage würde ein Großteil dessen, was mit mir nicht stimmte, auf psychosoziale Vernachlässigung, künstliche Farbstoffe in Lebensmitteln, Milchprodukte und Umweltverschmutzung zurückgeführt werden. Ein paar Jahrhunderte zuvor wären es böse Geister gewesen, was der Sache noch am nächsten kam, aber im Hinblick auf therapeutische Maßnahmen auch keine große Hilfe bot.
Vaughans Medizin bestand aus einer schicken gelben Kapsel, die, glaube ich, Lentizol hieß. Ihre einzige Wirkung, soweit ich mich erinnere, war ein ausgetrockneter Mund und quälende Verstopfung. Vielleicht gehörte das mit zur angestrebten Wirkung der Pille: An Stehlen war gar nicht zu denken, wenn man den ganzen Tag auf dem Pott hockte und sich den Magen durchknetete.
Unterdessen galt es, sich darum zu kümmern, daß ich nicht im Schulstoff zurückfiel. Durch meine vorübergehende Relegation würde ich den Rest des Semesters zu Hauseverbringen. Im folgenden Sommersemester standen meine O-Level-Prüfungen an, und mein Vater hatte nicht vor, die Zügel schleifen zu lassen, ganz besonders nicht in Mathematik, einem Fach, in dem ich mit Pauken und Trompeten durchrasseln würde. Das Mathe-O-Level nicht zu schaffen, bedeutete eine Katastrophe, weil ich dann auch nicht zu den A-Levels zugelassen wurde. Die zweite entscheidende Zulassungsprüfung in Englisch hatte ich bereits im November absolviert: Weiß der Henker, warum man schon Monate vorher mit den Prüfungen anfing – vermutlich, um sie so früh wie möglich hinter sich zu bringen.
Damals hielt ich es für ein großes Unglück, daß mein Vater in Französisch, Deutsch, Latein und englischer Literatur mindestens genauso bewandert war wie in Physik, Chemie und Mathematik.
Sein Hauptaugenmerk galt jedoch der Mathematik. Unter seiner Anleitung würde er mir auf die Sprünge helfen.
Schlimmere Höllenqualen ließen sich kaum ausdenken. Der Mann, den ich am meisten auf der Welt fürchtete, in dessen Gegenwart alle Intelligenz schwand und ich keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbekam, würde mich mano a mano und tête à tête in dem Fach unterrichten, das mir nicht weniger
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