01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
Schulverweis. Das Eis, auf dem ich mich bewegte, wurde immer dünner und brüchiger.
Mein Vater war bereits unterwegs. Bis zu seinem Eintreffen wurde ich nach oben geschickt, um auf meinem Zimmer auf ihn zu warten.
Auf der Fahrt nach Hause herrschte eisiges Schweigen, aber ich wußte, daß es nicht dabei bleiben würde. Der analytische Verstand meines Vaters würde sich weder mit der Erkenntniszufriedengeben, daß ich mich verrannt hatte und wie ein verlorenes Schaf vom Weg abgekommen war, noch würde er es bei einem einfachen Verzeihen, Vergessen, Verurteilen, Bestrafen oder Ermahnen bewenden lassen. Mir stand viel Schlimmeres bevor. Er würde das Ganze verstehen wollen. Ich hatte nicht das geringste Interesse daran, daß er es verstand, wie kein Jugendlicher verstanden werden will, weshalb sie in einem fort darüber jammern, mißverstanden zu werden, vor allen Dingen aber wollte ich um nichts auf der Welt, daß er von Matthew erfuhr.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich damals glaubte, Matthew sei der Grund meines zwanghaften Stehlens. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich heute so denke. Ich weiß allerdings mit Bestimmtheit, daß er der Grund meines verwegenen Leichtsinns war. Er war der Grund meiner sämtlichen Emotionen, die ich ganz gewiß mit niemandem teilen wollte, am wenigsten mit meinen Eltern, allein aus Angst, die Wahrheit könne tatsächlich ans Licht kommen.
Es folgte die unausweichliche Sitzung im Büro, genau wie an den Morgen, wenn das Schulzeugnis eintraf, nur diesmal um einiges unangenehmer. Vater am Schreibtisch von einer dichten Tabakwolke eingehüllt, Mutter auf dem Sofa, hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Tränen, während ich wie gebannt auf die gewaltigen Rauchwolken starrte, die mein Vater in seine Lungen sog: Zunächst paffte er mehrmals hintereinander an der Pfeife und stieß aus seinen Mundwinkeln Rauchwölkchen aus, die von Mal zu Mal größer wurden, bevor er zuletzt mit einem kräftigen Paffer eine gigantische Rauchwolke produzierte und einsog, die dann beim Sprechen minutenlang Stück für Stück aus Mund und Nasenlöchern wieder zum Vorschein kam. Noch geschlagene zehn Minuten nach diesem gewaltigen Inhalieren konnte es passieren, daß, wenn er lachte oder schnaubte, letzte Rauchfetzen aus den Tiefen seiner Lungen aufstiegen, die sich die ganze Zeit über dort festgesetzt hatten.
Wie er das störrische »Weiß nicht, weiß nicht« ertrug, das ihm auf jede seiner Fragen entgegenschlug, ist mir bis heute ein Rätsel.
Mit seinem Scharfsinn erkannte er sofort, daß meine Verstocktheit tief verborgene Gründe hatte, denen durch Argumente, gutes Zureden oder Drohungen nicht beizukommen war. Natürlich analysierte und theoretisierte er wie Holmes, aber nicht anders als Holmes wußte er auch, daß es ein Kardinalfehler war, Theorien ohne ausreichendes Datenmaterial zu entwickeln.
Eine seiner Hypothesen war, daß er und ich uns sehr ähnlich waren, ein Gedanke, den ich als monströs, unsinnig, absurd, unvorstellbar, wahnwitzig und unerträglich zurückwies. Heute sehe ich die Ähnlichkeiten. Er besitzt einen schärferen Verstand, höhere Standards und eine weitaus größere Arbeitskraft: Er ist, wie ein John-Buchan-Held sagen würde, in fast allen Belangen der fähigere Mensch, aber wir teilen gewisse Charakterzüge. Einen ausgeprägten Stolz beispielsweise, oder auch die Neigung zu analytischem Denken. Von meiner Mutter habe ich Eigenschaften geerbt, die ihm fehlen: Optimismus, den Wunsch, anderen zu gefallen, sie zu unterhalten und mich gefällig zu zeigen, kurzum, gute Laune zu verbreiten, wie auch die Fähigkeit, mich auf der Oberfläche treiben zu lassen, sowohl um schneller voranzukommen, anstatt sich durch trübe Fluten zu kämpfen, als auch als eine Form moralischer Feigheit. Ich besitze allerdings weder die Herzensgüte meiner Mutter noch ihre Gabe, die eigene Person zurückzunehmen, und mir fehlt auch die warmherzige Ausstrahlung, mit der sie anderen Menschen begegnet. Insofern gilt für meine Eltern die alte ironische Weisheit: Meine Mutter versteht sich auf die praktischen Dinge, mein Vater ist der Gefühlsmensch. Ich kann mir meine Mutter weit eher auf sich selbst gestellt vorstellen als meinen Vater. Ich würde nie die Fähigkeit meines Vaters unterschätzen, zu überraschen und Probleme zu lösen, aber ich sehe auch, daßeben jene Fähigkeit, Probleme zu lösen, ihn mit der Bürde ausgestattet hat, Probleme zu entdecken, wo gar keine sind. Wir alle kennen die
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