Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
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Die Magie war wieder entfesselt.
Ihre Musik ließ Gairs Nerven vibrieren wie Harfensaiten, und das Versprechen von Macht durchlief ihn. Er musste es nur wagen, sie zu ergreifen. Er drückte das Gesicht gegen die Knie und betete. »Gegrüßet seist du, Mutter, voll der Gnade, Licht und Leben der ganzen Welt. Gesegnet sind die Sanftmütigen, denn sie werden in dir Stärke finden. Gesegnet sind die Gnädigen, denn sie werden in dir Gerechtigkeit finden. Gesegnet sind die Verlorenen, denn sie werden in dir Erlösung finden. Amen.«
Das Gebet kam ihm Zeile für Zeile, Vers für Vers über die aufgeplatzten Lippen. Seine Finger suchten nach den vertrauten Perlen, damit er nicht aus dem Rhythmus kam, aber der Rosenkranz war Gair schon vor langer Zeit abgenommen worden. Als die Worte ins Stocken gerieten, zog er die Knie noch enger an die Brust und begann von Neuem.
»Jetzt habe ich mich an einen Ort der Finsternis verirrt, o Mutter, ich bin von deinem Pfade abgewichen. Leite mich erneut …«
Noch immer wisperte die Musik verführerisch in seinen Ohren. Nichts übertönte sie – kein Gebet, kein Flehen, nicht einmal die wenigen Hymnen, an die er sich noch erinnern konnte. Sie war überall: in den rostigen Eisenwänden seiner Zelle, in dem ranzigen Schweiß auf seiner Haut, in den Farben, die er in der Dunkelheit sah. Mit jedem Atemzug wurde sie ein wenig lauter.
Silbriges Glockengeläut erfüllte die Luft. Gair öffnete die Augen. Sofort wurden sie von einem so hellen, so weißen Licht versengt, dass er das Gesicht mit den Händen abschirmen musste. Zwischen den Fingern hindurch sah er zwei Gestalten, die in strahlenden Glanz gekleidet waren. Engel. Heilige Mutter, es waren Engel, die sie ihm gesandt hatte, damit sie ihn nach Hause führten.
»… segnet mich nun, nehmt mich an eure Seite, vergebt mir all meine Sünden …«
Kniend wartete Gair auf den Segen. Eine heftige Ohrfeige warf ihn zu Boden.
»Spar dir deine Gesänge, Scheußling!«
Ein weiterer Schlag schleuderte ihn gegen die Eisenplatten der Zellenwand. Schmerz explodierte in seinen Schläfen, und die Musik verstummte.
»Ganz ruhig. Er hat keine Macht, dir hier etwas anzutun.«
Nein. Er hatte keine Macht. Die Magie war ungezügelt und unberechenbar. Nie blieb sie lange bei jemandem. Es bedurfte keiner Eisenwände, um ihn hilflos zu machen. Gair sackte auf dem Boden zusammen und fasste sich an den pochenden Kopf. Gesegnet sind die Verlorenen .
Stiefel mit silbernen Sporen durchquerten sein Blickfeld und erzeugten die Geräusche, die wie zarter Glockenklang anmuteten. Und es waren keine Roben aus Licht, die er sah, sondern nur die weißen wollenen Waffenröcke der Marschälle des Hohen Vorstehers. Eiserne Handschellen legten sich klickend um Gairs Handgelenke, und die Marschälle hoben ihn an den Ketten hoch.
Er sackte wieder auf die Knie, und die Zelle drehte sich wie verrückt um ihn.
Fluchend rammte einer der Marschälle Gair seinen Stiefel in den Hintern.
Der andere Marschall schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Du weißt, dass es eine Sünde ist, ihren Namen für nichts anzurufen.«
»He! Du hast dich dem falschen Haus verschworen, mein Freund. Du predigst wie ein Lektor.« Ein weiterer Tritt. »Steh auf, Hexer! Geh zu deiner Hinrichtung, oder wir schleifen dich dorthin!«
Gair kämpfte sich auf die Beine. Draußen in dem steingepflasterten Korridor blendete ihn das Sonnenlicht, das durch hohe, schmale Fenster hereinfiel. Die Marschälle gingen rechts und links neben ihm her, stützten ihn unter den Armen, wenn er stolperte, und trieben ihn voran. Schwertscheiden und Sporen klirrten, als weitere Marschälle hinter ihnen her schritten.
Es ging durch endlose, verschwommene Korridore. Treppenstufen brachten ihn zum Taumeln und zerrissen ihm die nackten Füße. Es wurde ihm nicht erlaubt, sich auszuruhen und ruhig durchzuatmen. Er musste gehen oder fallen, und er war schon so oft gefallen. In Ungnade, außer Hörweite der Göttin, egal wie viele Gebetsfragmente noch immer durch die Leere jagten, die die Magie in ihm hinterlassen hatte.
»… sei mir ein Licht und tröste mich nun und in der Stunde meines Todes …«
»Still!«
Eine gepanzerte Hand gab Gairs Schläfe einen Stoß, und ein Ziehen an seinen Ketten trieb ihn weiter. Nun waren die Gänge breiter und mit Holz getäfelt. Der Boden bestand nicht mehr aus bloßem Stein, sondern aus Marmorplatten, und an den Wänden hingen Stickereien. Nach einer letzten Biegung blieben die Marschälle
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