01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
Wenn ich alle diese Dinge fühlte, was außer Zweifel stand, warum mußte ich sie dann vorspielen ? Waren normale Menschen ebenso peinlich bemüht um ihr Lächeln oder ihr Aussehen, durchliefen auch sie Schauer der Unsicherheit, welchen Eindruck sie hinterließen oder welche Figur sie abgaben? Wenn mir wirklich daran gelegen war, was die Leute von mir dachten, würde ich zweifellos nicht meine Reaktionen, sondern mein Handeln ändern. Ich würde an meinemVerhalten arbeiten, nicht an den Nuancen meines Lächelns. Oder glaubte ich vielleicht, der äußere Anschein sei der Vater des inneren Wesens und nicht dessen Kind? Und hatte ich tief im Inneren nicht sogar recht, so zu denken?
Der Polizeibulli, dessen einziger Insasse ich war, brauste über die Autobahn, bis wir die Landesgrenze des noch jungfräulichen County Avon passierten und an den diversen Chippings vorbeifuhren – Chipping Norton, Chipping Hamden und Chipping Sodbury. Hatte es in Stouts Hill nicht einen Jungen namens Meade gegeben, der aus Chipping Sodbury kam? Eine dunkle Erinnerung tauchte in mir auf, wie wir Meade einmal alle umringt und wegen seiner Hasenzähne aufgezogen hatten und er uns einen uralten Fluch aus der Vorkriegszeit ins Gesicht geschleudert hatte: »Ihr Lumpenpack! Ihr seid nichts als dreckiges Lumpenpack!« Sofort hatte ich mich auf seine Seite geschlagen, da auch meine Mutter den Ausdruck »dreckiges Lumpenpack« benutzte – und auch heute noch benutzt, wenn sie tatsächlich einmal wütend wird –, so daß mir Meade urplötzlich wie ein prima Kerl erschien. Die Treue gegenüber den Eltern ist schon eine komische Sache: Nie zeigt sie sich, wenn sie zugegen sind und für das kleinste Anzeichen der Bestätigung durch ihre Sprößlinge einen Finger opfern würden, ist aber umgehend zur Stelle, wenn sie meilenweit entfernt sind. Ich erinnere mich, wie ich mit acht oder neun Jahren einmal im Haus eines Freundes zu Abend aß und auf die Familie herabblickte, weil sie im Bad Domestos anstatt Harpie wie bei uns zu Hause benutzten. Wir waren Vim, Persil Fairy Liquid und RAC, andere Familien waren Ajax, Omo, Squeezee und AA, wofür man sie bedauerte und eine leise Abneigung verspürte: Merkten die nicht, daß sie alles falsch machten? Für den WC-Reiniger der Eltern empfand man ungeteilten Stolz, während man ihre sämtlichen Ansichten über das Leben, die Welt und einen selbst mit grenzenloser Verachtung strafte.
Der Bulli hielt vor einem großen Portal.
»Wo sind wir?« fragte ich den an mich geketteten Polizisten.
»Hat man dir das nicht gesagt? Pucklechurch.«
» Pucklechurch?«
»Genau. Pucklechurch.«
»Aber das klingt so harmlos. Geradezu freundlich.«
»Nun, mein Freund«, sagte der Polizist und erhob sich. »Da sei dir mal bloß nicht so sicher.«
Pucklechurch war ein Jugendgefängnis für Untersuchungshäftlinge. Ich glaube, sämtliche Insassen waren zwischen sechzehn und fünfundzwanzig und warteten entweder auf ihre Verurteilung oder die Überstellung in allgemeine Haftanstalten.
Es gibt zwei Sorten von Häftlingen in Untersuchungshaft. Geständige und Nicht-Geständige. Wer nicht gestanden hat, ist technisch gesehen kein Straftäter: Er sitzt ein, weil ihm keine Kaution zugestanden wurde oder weil er sie nicht zahlen kann. Er hat seine Schuld entweder bestritten oder, wie in meinem Fall, noch keine Gelegenheit gehabt, vor Gericht auszusagen: In beiden Fällen ist er von Rechts wegen unschuldig, bis man ihm das Gegenteil nachweisen kann. Die Geständigen haben sich zu ihrer Tat bekannt und warten nun auf ihr Verfahren und die Verurteilung.
Die Nicht-Geständigen trugen braune Uniformen, durften unbegrenzt Besuch empfangen, konnten sich soviel Essen kommen lassen, wie sie nur wollten, und brauchten auch nicht zu arbeiten. Sie konnten ihr eigenes Geld ausgeben, fernsehen und sich einen lauen Lenz machen.
Genau das machte ich auch während der ersten beiden Wochen mehr oder weniger. Man hatte mich im B-Flügel untergebracht, glücklicherweise sogar in einer Einzelzelle. Mir graute bloß vor dem dritten Tag, für den meine Eltern sich zu Besuch angemeldet hatten.
Ich stellte mir vor, wie sie über den günstigsten Termin ihres Besuchs beratschlagten. Auf keinen Fall am ersten Tag, an dem ich mich erst mal zurechtfinden mußte. Auch der zweite Tag würde zu sehr den Eindruck von Hast und Übereifervermitteln. Der vierte Tag hingegen würde vielleicht schon nach Gleichgültigkeit aussehen. Sie wollten mir zeigen, daß sie sich
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