01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
Höllenqualen erlitten: der Nominativ und Akkusativ im Lateinischen und Griechischen, der Begriff des indirekten Objekts, der Ablativus absolutus oder die Zeitenfolge – alle diese Dinge raubten ihnen den Schlaf. Andere wiederum wälzten sich schlaflos im Bett, weil sie zu dick waren, Sommersprossen hatten oder schielten. Ich kann mich an nichts davon erinnern, einfach weil es mich nicht interessierte. Für mich zählten nur meine eigenen Qualen.
Gebete – so lautet eins der strengsten und unversöhnlichsten Gesetze des Lebens – werden immer erst nachher erhört. Das Gute kommt immer zu spät. Heute kann ich schwimmen.
Ich weiß nicht mehr, wann und wie ich meine Prüfung bestand und die blaue Badehose eroberte. Ich weiß nur, daß es irgendwann klappte. Ich weiß, daß ich irgendwann ohne Grabstein und Schwimmflügel das Hundepaddeln lernte und die vorgeschriebenen zwei Bahnen schaffte. Und ich weiß auch noch, daß ich entdeckte, daß Schwimmen niemals jenes himmlische, freie Schweben sein würde, von dem ich geträumt hatte.
Die Qualen der roten Badehose waren jedoch nicht mehr als ein geringfügiges Übel oder leises Jucken im Vergleich zur schwärenden Agonie der Gong Prac.
Stouts Hill war nicht mehr oder weniger fromm als die anderen Schulen, die ich besucht habe. Erst vor kurzem entdeckte ich mit einigem Erstaunen, daß Robert Angus, der Direktor, als Autor tief spiritueller christlicher Lyrik hervorgetreten war. In der heutigen Zeit, da uns an jedem Flecken von Gottes armer Erde der faulige Atem der Bekehrung entgegenschlägt, mag man sich kaum vorstellen, daß Christen einmal gottgefällig zu leben verstanden, ohne ständig Worte wie »Seelsorge« und »Erlösung« im Munde zu führen. Gott war der erhabene, gütige Vater und Christus sein leuchtender, verklärt dreinblickender Sohn. Sie liebten einen, selbst wenn sie einen auf dem Klo oder beim Bonbonstehlen erwischten. Ein so verstandenes Christentum hatte nichts mit Hymnen, Psalmen, Chorgesängen und der Liturgie der Kirche zu tun.
In den sechziger Jahren kamen in England erstmals jene grauenhaften Kirchenlieder in Umlauf, die speziell für Kinder geschrieben waren – »Jonah«, »The Lord of the Dance«, »Morning Has Broken« und Schlimmeres mehr. »O Jesus I have Promised« bekam eine neue Melodie, während Musiklehrer und eingebildete, dummdreiste Komponisten uns landauf, landab mit neuen Texten und musikalischen Bearbeitungen des Te Deum und Nunc Dimittis behelligten und einige sich sogar über schwarze Spirituals und amerikanische Gospelmusik hermachten, mit so erbärmlichen Resultaten, daß es einem heute noch die Schamröte ins Gesicht treibt. Noch heute überfällt mich das kalte Grauen bei der Vorstellung an weiße, wohlgenährte britische Kinder, die mit ihren Eltern auf ehemaligen Sklavenplantagen auf den Bahamas oder Jamaica Urlaub machen, wie sie in ihre Händchen klatschen, auf Tamburine und Triangel schlagen und dazu mit ihren Fistelstimmchen »Let my people go« oder »Nobodyknows the trouble I have seen« singen, gänzlich unbekümmert um das, was sie da gerade zwitschern.
Andererseits reicht bei mir schon der bloße Gedanke an Musiklehrer, die rhythmisch in die Hände klatschen und dabei »Und eins und zwei und drei und da-da-da- dam!! « rufen, um mir das Blut in den Kopf schießen zu lassen, auch ohne daß ich mir um ethnische Pietätlosigkeiten oder andere Dinge einen Hals machen muß.
Jeden Morgen nach dem Frühstück rief uns in Stouts Hill eine Glocke zur Andacht, die allerdings lediglich aus einer Reihe heruntergeleierter Gebete, einer Lesung durch den Präfekten (der in altehrwürdiger britischer Tradition die kursiv gesetzten Worte der King-James-Bibel besonders betonte, als sei dies der eigentliche Grund für diese Schreibweise) und einem bekannten Kirchenlied bestand. Nur sonntags wurde eine richtige Messe gefeiert, einschließlich Kollekte, Psalmen, Liedern, Wechselgebet, Responsien, Chorgesangs und einer Predigt. Der in blaue Stolen und steife Halskrausen gewandete Chor zog kerzentragend ein, der Lehrkörper trug über den Talaren Hermelinkragen oder purpurfarbene Überwürfe, und wir Jungen marschierten in unseren blauen Anzügen und mit gestriegeltem Haar auf, nachdem wir zuvor in den Schlafsälen von Schwester Pinder, der Wirtschafterin und einem Troß Unterpräfekten begutachtet worden waren. Jeden Sonntag wurde ein anderer, dem Kirchenjahr entsprechender Psalm gebetet, und Mr. Hemuss, der Musiklehrer,
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