01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
benutzte die Sonntagsgottesdienste auch gern als Gelegenheit, uns mit neuen Liedern bekannt zu machen. Das bedeutete, daß man sie vorher einstudieren mußte. Samstags nach der Morgenandacht blieben wir also in der Kapelle (tatsächlich eine Turnhalle mit Altar), wo Gong Prac stattfand, die Abkürzung für Congregational Practice, obwohl ich damals nicht im Traum darauf gekommen wäre. Takt für Takt gingen wir den für den kommenden Tag anstehenden Psalm und die uns unbekannten Lieder durch. Samstags gab es zumFrühstück immer gekochte Eier, wobei es auf der ganzen Welt kaum etwas Unangenehmeres geben dürfte als ein Raum voller Menschen mit hartgekochten Eiern im Magen. Jeder Furz und Rülpser entläßt eine ekelerregende, ätzende Schwefelwolke, einen Gestank, bei dem ich mich noch heute unversehens in die Hölle von Cong Prac zurückversetzt fühle.
Über die Sehnsüchte und Selbstvorwürfe, die mich als Nichtschwimmer plagten, habe ich mich lang und breit ausgelassen. Doch all diese Empfindungen waren und sind nichts im Vergleich zu dem, was ich damals für Gottes Hartherzigkeit, Bösartigkeit und unverzeihbare Grausamkeit empfand und noch heute empfinde, mir die Gabe der Musik vorenthalten zu haben.
Die Musik ist die zugleich vollkommenste wie die niedrigste aller Künste. So steht es jedenfalls irgendwo bei E. M. Forster. Hatte Schwimmen in meiner Vorstellung etwas mit Fliegen zu tun, so war die Musik noch etwas viel Größeres. Musik war eine Art Penetration. Vielleicht wäre Absorption eine weniger vorbelastete Vokabel. Und zwar ein Penetrieren und Absorbieren der Dinge selbst. Ich weiß nicht, ob Sie je LSD genommen haben, doch wie uns Aldous Huxley, Jim Morrison und ihre vielen Adepten unablässig versichern, werden unter seinem Einfluß die Pforten der Wahrnehmung weit aufgerissen. Sofern man nicht William Blake heißt, ergibt ein solcher Satz nur Sinn, wenn man selbst eine Prise LSD in der Blutbahn zirkulieren hat. Beim prosaischen Anblick der Kaffeetasse und des Bananen-Sandwichs, die ich mir gerade an meinen Schreibtisch geholt habe, klingt er wie blühender Unsinn, aber ich denke, Sie wissen schon, was gemeint ist. LSD enthüllt das Was der Dinge, ihr eigentliches Wesen, ihre Essenz. Urplötzlich enthüllt sich einem das Wassersein des Wassers, das Teppichsein des Teppichs, das Waldsein des Walds, das Gelbsein von Gelb, das Fingernägelsein von Fingernägeln, das Allessein von allem, dasNichtsein von Nichts, das Allessein von Nichts. Für mich eröffnet die Musik einem den Zugang zu jeder dieser Essenzen des Daseins, nur eben zu einem Bruchteil der sozialen und finanziellen Kosten einer Droge und ohne die Notwendigkeit, ständig »Wow!« brüllen zu müssen, was zu den nervtötendsten und abschreckendsten Begleiterscheinungen des LSD-Konsums gehört.
Die anderen Künste haben den gleichen Effekt, nur sind sie viel stärker an die materielle Welt gebunden und in ihr verwurzelt.
Skulpturen sind entweder figurative Darstellungen oder besitzen durch ihr Material, das konkret und greifbar ist, eine klar umrissene Physis. Die Wörter eines Gedichts verweisen auf anderes, sind aufgeladen mit Denotationen und Konnotationen, Anspielungen und Bedeutungen, Codierungen und Zeicheninhalten. Farbe ist eine feste Substanz, wie auch der Inhalt der Malerei sich auf einer gerahmten Fläche abspielt. Nur die Musik, ungeachtet der Präzision ihrer Form und der mathematischen Tyrannei ihrer Gesetze, entflieht in eine zeitlose Abstraktion und absurde Erhabenheit, die überall und nirgends zugleich ist. Das Grunzen einer geharzten Darmsaite, das speichelgetränkte Dröhnen eines Blechblasinstruments, das quietschende Gleiten schweißnasser Finger auf einem Gitarrenbund, alle körperliche Anstrengung und Schwerfälligkeit des »Musik-Machens«, das soviel mehr mit Schweiß und Arbeit zu tun hat als die kunstvoll patinierten Pentimenti oder die der Malerei nachempfundene demonstrative Manieriertheit der anderen Schönen Künste, ist im Augenblick des Geschehens vergessen, dem Moment, da Musik entsteht , wenn die Schallwellen vom vibrierenden Instrument oder dem vibrierenden Hi-Fi-Lautsprecher sich zum menschlichen Tympanum und von dort durch den Gehörgang bis ins Gehirn fortpflanzen, wo sie den Geist in ganz unterschiedliche Schwingungen versetzen.
Je nach Stimmung kann der Hörer das Nichts der Musikin strengste Formen gießen oder sich in freier Assoziation von ihm treiben lassen; er kann der Musik unter den
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