01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
Umschlag fühlt. Nicht auszudenken.
Das Taschentuch gehörte übrigens Julian Mather, wie aus dem liebevoll von seiner Schwester, der Nanny oder einem Au-pair-Mädchen eingestickten Namensschild hervorging. Meine eigenen Taschentücher waren, sehr zum Unwillen meiner Mutter, spätestens nach einer Woche verschwunden.
»Was machst du nur damit, Liebling? Ißt du sie auf?«
Worauf ich mit der ewigen Schuljungen-Ausflucht antwortete:
»Aber alle verlieren ihre Taschentücher, Mummy.«
Oder ich wälzte es auf die Schulwäscherei ab. »Keiner kriegt seine Taschentücher zurück. Das ist allgemein bekannt.«
Als nächstes schlich ich die Treppe hinunter, um noch die nötigen Briefmarken aufzutreiben.
Ich wußte, daß Cromie gerade Schiedsrichter beim Cricket war und sein Büro höchstwahrscheinlich nicht abgeschlossen hatte.
Still und heimlich im Büro des Direktors herumzuschnüffelnwar mit einem besonderen Nervenkitzel verbunden. Als ich bei einem meiner früheren Besuche in seinen Unterlagen gestöbert hatte, war ich auf ein Papier mit meinen Eleven-Plus-Ergebnissen gestoßen.
Wir hatten in Stouts Hill unser Eleven-Plus-Examen gemacht, ohne überhaupt zu wissen, worum es dabei ging und wozu es gut war. Mein Klassenlehrer, Major Dobson, war einfach eines Tages mit einem Stapel Blätter in die Klasse marschiert und hatte verkündet: »Da ihr in letzter Zeit alle ziemlich faul gewesen seid, habe ich beschlossen, euch hiermit ein wenig zu beschäftigen.«
Dann hatte er diese seltsamen Bögen ausgeteilt und uns erklärt, wir hätten dreißig oder fünfzig oder was weiß ich wie viele Minuten Zeit, sämtliche Fragen zu beantworten.
Kein Wort davon, daß es sich um das berüchtigte Eleven-Plus-Examen handelte, die staatlich vorgeschriebene Prüfung, mit der im ganzen Land die Spreu vom Weizen, Dummköpfe und Schlaumeier, Versager und Aufsteiger, eingebildete Klugscheißer und hoffnungslose Einfaltspinsel, schleimige Intelligenzbolzen und abgeschriebene Dumpfbacken voneinander getrennt werden. Einen hirnverbrannteren und elitäreren Unfug hat es selten in einem demokratischen Staat gegeben. Wie viele Existenzen wurden nicht verpfuscht, wie viele Hoffnungen vereitelt und wieviel Ehrgeiz für immer gebrochen aufgrund dieses stümperhaften, fanatischen und unsinnigen Versuchs gesellschaftlicher Chancenverteilung.
Da alle Jungen unserer Prep School anschließend auf unabhängige Public Schools gingen, die sich um solchen Firlefanz ohnehin nicht scherten, wurde die ganze Angelegenheit in Stouts Hill als bloße Lappalie betrachtet, als eine lästige und anmaßende bürokratische Vorschrift, die man ohne großes Aufsehen hinter sich brachte und von der man die Schüler ganz gewiß nicht groß zu informieren brauchte.
Die Prüfung selbst bestand aus einem dieser albernen IQ-Tests nach Eynseck, bei denen es darum geht, bestimmteFiguren zu erkennen oder die Lücke zwischen zwei Wörtern so zu füllen, daß sich zwei neue Begriffe ergeben, und anderer Humbug mehr.
MEHL ... GESICHT
... beispielsweise hätte als Antwort SACK, wie in »Mehlsack« und »Sackgesicht« – obwohl ich die leise Befürchtung habe, daß diese Frage in unserem Test nicht vorkam. Aber ich erinnere mich noch an Fragen wie:
»OHR verhält sich zu HÖREN wie AUGE zu ...?« oder
»Ergänze die folgende Zahlenreihe: 1, 3, 5, 7, 11 ...!«
Und so weiter.
Als ich also an jenem Nachmittag im Schreibtisch des Direktors herumwühlte, stieß ich auf ein Blatt mit der Überschrift Eleven-Plus-Ergebnisse, auf dem offenbar Intelligenzquotienten oder ähnlicher Quark verzeichnet waren. Aufgefallen war es mir nur deshalb, weil mein Name ganz oben stand, versehen mit einem Sternchen und dem in Klammern gesetzten Zusatz »Annähernd ein Genie«. Direktor Cromie hatte ihn mit blauschwarzer Tinte unterstrichen und danebengeschrieben: »Ich denke, das erklärt alles ...«
Auch wenn es wie Angeberei klingt, die Nachricht, einen hohen Intelligenzquotienten zu besitzen, beglückte mich keineswegs. Zunächst einmal mißfiel mir das »annähernd« in der Formulierung »annähernd ein Genie« (wenn man schon ein Freak ist, dann bitte ein echter Freak und nicht irgendein halbgarer Zwitter), und zweitens beunruhigte mich der Gedanke, mich in einer Sache auszuzeichnen, über die ich keinerlei Kontrolle hatte. Sie hätten genausogut etwas über meine Körpergröße oder Haarfarbe sagen können, ohne daß ich das Gefühl gehabt hätte, es ginge dabei irgendwie um meine
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