01 Das Haus in der Rothschildallee
Zimmer. Mit Schritten, die den Holzboden erbeben ließen, mit den Kartoffeln, die sie für ihren Hätschelbuben zu Kartoffelpuffern reiben und für seinen empfindlichen Vater zu Brei zerstampfen würde, und mit der edlen Tweedjacke, die keiner in Schwägerin Paulas Familie je tragen würde.
Weil sie den einzigen Zug bekommen musste, der am Abend noch nach Frankfurt fuhr, blieb Josepha nicht mehr die Zeit, die Jacke anderswo gegen die nahrhaften Schätze von der Wetterau einzutauschen. Sie saß im Zug und dachte an den Geburtstagskuchen für Alice, den sie nun nicht mehr würde backen können; sie starrte zum Fenster hinaus, ohne dass sie auch nur eine Telegrafenstange oder einen Kirchturm sah. Obwohl ihr nicht übel war, hatte sie das Bedürfnis zu würgen, denn sie konnte nicht fassen, was geschehen war. Für Josepha Krause, die jede Nacht betete, der verdammte Krieg möge zu Ende sein, ehe ihr Erwin zu den Soldaten musste, war es die erste persönliche Begegnung mit der Form von Hass, den die Welt Antisemitismus nennt. Noch kannte sie das Wort nicht.
Abends um zehn war sie wieder zu Hause. Die Uhr in der Diele schlug gerade zum letzten Mal an. Erwin kam mit einem Buch von der Toilette, obgleich sein Vater ihm wiederholt verboten hatte, dort zu lesen. Er legte seinen Finger auf Josephas Lippen, um sie an ihr Schweigegelübde zu erinnern, und sie drückte ihn so fest, als wäre er aus Amerika heimgekehrt. Betsy, immer feinfühlig und diskret, aber auch alarmiert und angespannt, merkte sofort an Josephas verstörtem Gesicht und der aus Bad Nauheim zurückgekehrten Tweedjacke, dass etwas Gravierendes passiert sein musste. Sie bestand darauf, dass ihre Köchin eine Tasse Kamillentee trank, und flößte ihr zwanzig Baldriantropfen ein. Fragen stellte die Frau des Hauses nicht. Noch nicht einmal, als der Geburtstag von Klein Alice unmittelbar bevorstand.
Sowohl Doktor Meyerbeer samt Gattin, die nun jede Chance wahrnahm, außer Haus an Gebackenes zu kommen, als auch Schwester Grete Neger hatten zugesagt. Schweigend, niedergeschlagen und missgelaunt stellte Josepha ein Gebäck her, das ein neu herausgekommenes Kriegskochbuch großsprecherisch »Schwarzbrotapfelschaum« genannt hatte. Es schmeckte, das stellte sie fest, als sie die Krümel aus der Kuchenform kratzte und kostete, vorwiegend nach der ersten Wortsilbe.
Schließlich, vierzehn Tage nach Alices Geburtstag, als niemand mehr von dem Schwarzbrotapfelschaum übel sprach, weil seitdem das Schwarzbrot noch knapper geworden war als zuvor, war es der Hausherr, bei dem Josepha ihrem verwundeten Herzen Luft machte. Als dies geschah, war Johann Isidor, wofür er sich noch lange Jahre schämen sollte, weil Aufmerksamkeit zur rechten Zeit ihm vielleicht den richtigen Weg gewiesen hätte, nicht ganz bei der Sache. Der Plan, mit einem »massiven Materialeinsatz« die Franzosen bei Verdun »ausbluten« zu lassen, war soeben in die Tat umgesetzt worden. Erstmalig wurden deutsche Flugzeuge in geschlossenen Kampfgeschwadern eingesetzt.
Es lag in der Natur eines besorgten deutschen Patrioten, dass er an diesem Kampf um Gedeih und Verderb mehr Anteil nahm als an einem Gespräch, in dem es um die Querelen ging, die seine Köchin mit ihrer Verwandtschaft gehabt hatte. Johann Isidor war nicht der Mann, dem es gegeben war, den banalen Dingen des Alltags sein Ohr zu leihen. Auch nach Josephas beredter Klage ging ihm nicht auf, weshalb zum ersten Geburtstag seiner jüngsten Tochter ein Backwerk auf der Tortenplatte gelegen hatte, das in Friedenszeiten noch nicht einmal als ein solches erkannt worden wäre. Als Josepha von der überraschenden Tirade ihrer Bad Nauheimer Schwägerin berichtete, schaute Johann Isidor zwar seine Köchin mit der Aufmerksamkeit an, die ihrer Person gebührte, doch unmittelbar darauf blätterte er wieder in der Zeitung. Die kollektive Diffamierung der jüdischen Frontsoldaten, von der Josepha ihm soeben berichtet hatte, hielt er keineswegs für ein Menetekel, sondern für den berühmten Einzelfall.
»Ich würde mir nicht so viele Gedanken machen, Josepha«, sagte ihr Brotherr begütigend, »ich meine, wir sind uns doch beide einig, dass es Wichtigeres auf der Welt gibt als das bösartige Geschwätz dummer Weiber. So etwas hat es leider immer gegeben.«
Josepha hatte ihre Zweifel. Allerdings gab die Entwicklung zunächst dem Herrn des Hauses recht. Das Kaiserreich stand vor einer gewaltigen Belastungsprobe. Die Ernährungslage in der Heimat, schon 1914 durch
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