01 Das Haus in der Rothschildallee
den enormen Bedarf an der Front nicht mehr gut und spürbar von der britischen Seeblockade getroffen, war 1915 zusehends schlechter geworden. Im Verlauf des Jahres 1916 mangelte es dann an allen Dingen des täglichen Bedarfs, vor allem an den Grundnahrungsmitteln.
Johann Isidor fürchtete nicht so um sein eigenes Wohl und schon gar nicht um das seiner Familie. Das kaufmännische Geschick, der Weitblick und die Risikobereitschaft, die ihm in Friedenszeiten Besitz und Wohlstand gebracht hatten, kamen ihm auch im Krieg zugute. Er scheute sich nicht, das staatlich kontrollierte Verteilungssystem zu unterlaufen und sich am Handel auf den illegalen Märkten zu beteiligen. »Gott«, sagte er zu seiner Frau und beschenkte sie mit einem Pfund Butter, einem Pfund Schmalz und drei Köpfen Weißkohl, »hilft nur noch denen, die sich selbst helfen.«
Die besitzende Klasse schritt auf dem Schwarzmarkt zur Selbsthilfe, die Armen hungerten. Von Tag zu Tag mehr. Der Grat vom treu sorgenden Ernährer der Familie zum berüchtigten Kriegsgewinnler war winzig. Obwohl er in seinem Haus auch nicht den kleinsten Scherz über Wilhelm II. durchgehen ließ und er seiner achtjährigen Tochter Victoria so anschaulich von der Reichsgründung in Versailles erzählte wie andere Väter von Dornröschens Schloss, gelang es dem kaisertreuen Bürger Sternberg, um seiner Familie willen alle Skrupel zu unterdrücken. Umso mehr bedrückte ihn, dass immer mehr von der nachlassenden Kampfmoral der Nation zu hören war.
Geschickte Journalisten, die durch die eng geknüpften Maschen der Zensur zu schlüpfen wussten, deuteten wiederholt an, dass an der Heimatfront nicht mehr von Kriegsbegeisterung und Patriotismus die Rede sein könne. In Frankfurt war das besonders zu spüren. Die Frankfurter, von Lokalpoeten als ein ehrlicher, knorriger Menschenschlag besungen, der aus seinem Herzen keine Mördergrube mache, übertrafen knurrend ihren Ruf. Seit der Mobilmachung und der siegesfrohen Ankündigung auf deutschen Eisenbahnwagen »Weihnachten sind wir wieder zu Hause« waren zwar nur eineinhalb Jahre vergangen, aber der Hunger, die Zwangsbewirtschaftung und die Hilflosigkeit der Ämter hatten die Menschen klarsichtig gemacht.
Vor allem die Frauen, denen man den Ernährer genommen hatte und die zu Hause nicht wussten, wie sie ihre Kinder satt bekommen sollten, reagierten mit Wut und Hohn, wenn sie vor den Geschäften Schlange standen und mit leeren Taschen nach Hause kamen. Vom Kriegsernährungsamt wurden sie mit unglaublichen Ratschlägen bedacht – beispielsweise, man solle durch »zweitausendfünfhundert Kauakte für dreißig Bissen in dreißig Minuten selbst für eine bessere Nahrungsverwertung sorgen«. Erwin zeichnete ein wiederkäuendes Riesenmonster mit einem winzigen Kuchen auf einem schwarz-weiß-roten Teller und dem Eisernen Kreuz an der Brust. Er klebte die Karikatur an das Küchenbuffet. Selbst sein Vater lächelte. »Sag nur, dass du immer noch Maler werden willst, mein Sohn.«
»Ja«, erwiderte der designierte Stammhalter mutig.
Es gab Brotmarken, Brotbücher und festgesetzte Preise für Getreideprodukte, aber immer weniger Mehl und Brot. Eine Reichsverteilungsstelle für die Kartoffelversorgung wurde gegründet, doch gelangten kaum noch Kartoffeln in die Großstädte. Die Landwirtschaft war schon bald nach Kriegsbeginn nicht mehr voll funktionsfähig gewesen – die Bauern und Knechte wurden zum Militär eingezogen, die Pferde für das Heer beschlagnahmt, doch auf den Höfen war niemand mehr da, um einen Pflug zu reparieren oder einen Schlauch zu flicken. Die polnischen Wanderarbeiter standen nicht mehr zur Verfügung, junge Mädchen und schwangere Frauen verrichteten Männerarbeit. Die Versorgung mit Milch, Butter und Eiern brach zusammen. Fleisch verschwand direkt auf dem Schwarzmarkt und mit der Wurst die Moral; obgleich das Verfüttern von Zuckerrüben an das Vieh verboten wurde, klappte auch die Versorgung mit Zucker nicht mehr. »Ersatz« wurde das meistgebrauchte Wort in deutschen Küchen. Es gab Honigersatz, Ersatzkaffee, Butterersatz, Kakao-, Käse- und Fischersatz.
»Bald gibt es auch Ersatzmäntel und Ersatzköpfe«, mutmaßte Josepha.
»Es gibt aber keinen Ersatz für die, die uns genommen wurden, ohne dass wir ihnen Lebewohl sagen durften«, notierte Johann Isidor am zwanzigsten Geburtstag seines ältesten Sohns. Er hatte begonnen, Tagebuch zu führen. Doktor Meyerbeer, der Seelenkenner, hatte es ihm geraten.
»Es hat schon
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