Irrliebe
1
Marie kannte Franziska Bellgardt aus der Schule. Sie waren sich während ihrer ersten gemeinsamen Jahre auf dem Gymnasium in der Dortmunder Nordstadt nur zufällig auf den Fluren oder dem Schulhof begegnet. Ohne bis dahin jemals ein Wort miteinander gesprochen zu haben, nahmen sie sich stets wahr und mochten einander. Der Eintritt in die Oberstufe – Marie war damals 17 und Franziska, die ein Schuljahr wiederholen musste, bereits volljährig – führte sie schließlich zusammen, weil beide den Grundkurs in Philosophie belegt hatten. Sie wählten nun beinahe zwangsläufig im Klassenraum die Plätze nebeneinander, als vollziehe sich damit äußerlich die unausgesprochene Verbundenheit. Den gemeinsamen Schulstunden folgten schnell Café-Besuche am Nachmittag, bald auch längere Spaziergänge in nahe gelegenen Parks, schließlich abendliche Treffen in einigen der damals populären Szene-Lokale. Es schien, als sei es an der Zeit, nach den langjährigen flüchtigen und zufälligen Begegnungen längst Überfälliges nachzuholen und im Schoß einer im Geborgenen gewachsenen Vertrautheit Einblick in das eigene Leben zu gestatten und Teil des anderen Lebens zu werden.
Franziska und Marie blieben keine Freundinnen. Als sie nichts Neues mehr voneinander erfuhren und ihre Gespräche sich um dieselben Themen zu drehen begannen, spürten sie, dass das Leben sie in unterschiedliche Richtungen treiben und die viel zu schnell beschworene Innigkeit zwischen ihnen keinen Bestand haben würde. Franziska offenbarte ihre Scheu und ihren Schwermut. Sie klammerte sich eine Zeit lang umso mehr an Marie, in der sie eine Vertraute finden wollte, die ihr in einer sie überfordernden Welt Orientierung versprach. Franziska war von Ängsten und Enttäuschungen geprägt, die den Blick in ihre Zukunft trübten. Marie waren solche Empfindungen nicht fremd, aber sie sah mit Neugier und Optimismus nach vorn. Es gelang nicht, zwischen diesen Welten Brücken zu schlagen. Je nachdrücklicher Franziska in ihre als unglückselig empfundene Vergangenheit vorstieß und Maries Interesse für alles einforderte, was ihr wiederkehrendes Scheitern auszulösen schien, desto mehr entzog sich Marie. Sie erkannte, dass der naiv und überstürzt eingegangenen Verbindung zu Franziska keine Zukunft beschieden war und aus der letztlich nur an flüchtigen Empfindungen festzumachenden wechselseitigen Sympathie keine Freundschaft wachsen konnte. Franziska und Marie lebten und dachten in unterschiedlichen Strukturen, und das Unheilvolle war, dass diese Erkenntnis Marie die Begegnungen mit Franziska zur Last werden ließen, während Franziska in Maries Lebensmodell ein therapeutisches Konzept für sich zu erblicken begann. Ohne es selbst leben zu können, wollte sie es von Marie vorgelebt sehen und forderte ihre ständige Präsenz ein.
Marie ging zu Franziska auf Distanz und sagte Treffen mit ihr immer häufiger aus vorgeschobenen Gründen ab, weil sie nicht wagte, offen mit Franziska zu brechen. Sie hatte für Franziska Verantwortung übernommen, der sie sich nur deshalb verpflichtet fühlte, weil sie mit ihrer voreiligen Offenheit Franziska eine vorauseilende Verbundenheit geschenkt hatte. Marie entfernte sich von Franziska, soweit sie es konnte, und kommentierte auch deren Vorhalte nicht, mit denen sie – gespielt vorwurfsvoll und deshalb umso ernster – Maries Engagement anmahnte und ihre Enttäuschung demonstrierte.
Marie kam schließlich auf die Idee, gemeinsam mit Franziska im örtlichen Magazin Kult-Mund eine Kontaktanzeige aufzugeben. Franziska mutmaßte nicht zu Unrecht, dass Marie eine Gelegenheit suchte, ihr einen Partner zu vermitteln, an den sie die Stafette der Verantwortung übergeben konnte, doch Marie überging diesen Einwand. Damals wie Franziska ohne festen Freund, hatte Marie die andere überzeugen können, über die Anzeige den wahren Mann zu finden. Franziska hatte schließlich eingewilligt, und beide hatten in einer einander fremdgewordenen Unbeschwertheit den Text des Inserats verfasst: 18-jährige sinnliche Frau, fröhlich, offen und zugleich tiefsinnig, 172 cm, schlank, dunkle lange Haare, sucht Mann bis 25, der sie verzaubert und mit ihr die Welt erobert.
Franziska fand sich in dieser Anzeige, die bis auf das Alter im Wesentlichen auf Marie zutraf, gut beschrieben. Marie begriff, dass es Franziskas scheinbare Fröhlichkeit und Offenheit waren, die sie auf den ersten Blick anziehend machten. Diese wie eine Monstranz dargebotenen
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