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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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ganz anderen Leuten als Ihnen geholfen, mit sich selbst zu reden.«
    In den Schulen wurde auch den Lehrerinnen der unteren Klassen nahegelegt, über Treue und Ausdauer, über die Tugend der Genügsamkeit und über die Redlichkeit des Soldatenherzens zu referieren. Victoria kam bekümmert nach Hause. Als Hausaufgabe sollte sie sechs Sprichwörter zum Thema Sparen aufschreiben, doch ihr fielen nur drei ein. »Und die kennt doch jeder«, sorgte sich die Individualistin.
    »Wer erwirbt, tut viel; wer spart, tut mehr«, half ihr die pädagogisch begabte Mutter.
    »Der spart zu spät, der nichts mehr hat«, empfahl Josepha.
    »Mit Kuchen kann man Brot sparen«, sekundierte Tante Jettchen; sie wurde für den unzeitgemäßen Frevel durch einen entsetzten Blick der Hausfrau gescholten.
    »Das ist der schönste Spruch von allen«, entschied Victoria. »Mein Tantchen ist so klug wie der Kaiser.«
    »Es gibt doch noch Normalität«, stellte der Familienvorstand aufatmend fest, als seine Frau am Freitagabend die Kerzen in den silbernen Leuchtern entzündete und er den Hefezopf anschnitt, den sie geflochten hatte – zwar aus dunklem Mehl und mit gemahlenen Trockenerbsen als Streckmittel, aber doch nach dem Rezept der frommen Pforzheimer Großmutter. Auf dem weißen Damasttischtuch standen die farbigen Römer. Seit Ottos Tod feierte die Familie wieder den Sabbat. Victoria kannte bereits die Segenssprüche für das Brot und den Wein, die kleine Alice klatschte, sobald sie die hebräischen Worte hörte.
    Äußerlich war auch der Küche nichts von den Malaisen der Zeit anzumerken. Der Herd glänzte, die blau-weiß karierten Gardinen waren rein und gestärkt, die Fenster ohne eine einzige Schliere. Der Kupferkessel und die Kuchenformen wurden wöchentlich auf Hochglanz poliert, das Salatbesteck und die Eierlöffel aus Horn in ein schützendes Filztuch gehüllt. In der Speisekammer standen eine Ballonflasche mit Ebbelwein vom Vorjahr und zwei randvolle Rumtöpfe, die schamlos nach Sommer und dem süßen Leben der Sorgenfreien dufteten. Trotzdem schärfte der Hunger auch im ersten Stock der Rothschildallee 9 seine Klauen. Schmalhans, bis dahin bei der oberen Gesellschaftsklasse eher ein theoretischer Begriff aus dem deutschen Sprichwortschatz, wurde auch bei der Familie Sternberg Küchenmeister. Außer der kleinen Alice, die juchzend an jeder harten Brotkruste kaute, als wäre sie ein Stück vom Schlaraffenland, wussten alle, was das Wort Kartoffelfäule bedeutete.
    »Ein Königreich für eine Kartoffel«, deklamierte Erwin. Er las gerade »Richard III.«.
    »Und früher waren wir so dumm zu sagen«, erinnerte sich Jettchen wehmütig, »Kartoffeln gehören in den Keller und nicht auf den Teller.«
    »Dummheit und Stolz wachsen aus dem gleichen Holz«, zitierte die reuevolle Josepha, wenn sie im Kartoffeltopf einen zähen, mit Zwiebeln und der Haut von Blutwurst gewürzten Brei rührte, das ein aktuelles »Kriegskochbuch für die sparsame Hausfrau« als »Hessischen Graupentopf« bezeichnet hatte. Trotz Betsys Bekundungen, Josepha hätte mutiger und loyaler gehandelt, als es die meisten Menschen in ihrer Lage getan hätten, machte diese sich immer wieder Vorwürfe, dass sie so unwiderruflich das nahrhafte Band zu der Bad Nauheimer Sippschaft zerschnitten hatte.
    Die Kartoffelkiste im Keller war leer; es bestand keine Aussicht auf einen Wintervorrat. Der Gemüsehändler Mayer in der Wiesenstraße, bei dem die Sternbergs fünfzehn Jahre lang die besten Kunden gewesen waren und der für Madame Sternberg bis zum traurigen Ende immer eine Sonderüberraschung aus einem verborgenen Winkel geholt hatte, hatte mangels Ware seinen Laden geschlossen – entsprechend dem Sprachusus der Zeit »vorübergehend«. In Sachen Kartoffeln musste auch der Hausherr passen. Es war unmöglich, sperriges Gut auf dem Schwarzmarkt zu kaufen und es unbeobachtet nach Hause zu schaffen. Johann Isidors inzwischen dünn gesäte oberhessische Verwandtschaft beantwortete selten seine Briefe, und wenn, beklagte sie die eigene Misere, eine Erfahrung, die die meisten Großstadtbewohner in dieser Zeit machten.
    Lediglich einige Zeitungen verkannten den Ernst der Lage und wagten noch eine lose Zunge. Sie veröffentlichten eine Zeichnung, auf der eine frech grinsende Kartoffel mit einem Papierhelm auf dem Kopf zu sehen war, dazu ein Gedicht von einem gewissen Hans Fallada:
»Durchhalten!
Droh’n uns’re Feinde auch noch so viel
uns mit der Hungersnot Graus.
Wir machen die

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