01 - Der Ring der Nibelungen
zu öffnen.
Tatsächlich: Wie eine schwarze Mauer stand vor ihr der Rand des riesigen Kraters. Rauchfahnen, die sich aus dem Lavastrom tief im Boden an die Oberfläche gekämpft hatten, kräuselten sich vergehend in den Wind, der hier oben erbarmungslos blies.
Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Kuppe, und doch brauchte Brunhilde endlose Minuten, sie zu überwinden. Hätten die Vorfahren den Steinblock, auf dem die Krone abzulegen war, nur wenige hundert Schritte weiter hinten auf dem Kraterrand errichtet - Brunhilde wäre vermutlich torkelnd in den Krater gestürzt.
Der Block aus schwarzem Fels, der sich als vollkommener Quader von seiner Umgebung abhob, war auch in der Dunkelheit deutlich zu erkennen. Es wäre einer Königin würdig gewesen, stolz an ihn heranzutreten und die Krone mit angemessener Vorsicht genau in der Mitte abzulegen.
Doch Brunhilde fiel mehr auf den Steinklotz, als dass sie sich ihm näherte. Ihre Lungen sogen sich voll mit der dünnen Luft, ohne wirklich Kraft aus ihr ziehen zu können. Vor ihren Augen tanzten Lichter und Farben, die sie noch nie gesehen hatte. Sie hustete, und einige Blutstropfen benetzten den Vulkanstein.
Es gelang ihr noch einmal, sich hochzustemmen. Ihre zitternden Arme drückten ihren Oberkörper in die Höhe, und ihre Beine rutschten wieder dem Boden entgegen.
Ihre dick eingewickelten Finger spürten Ritzen auf dem Block. Ihr lag nichts daran, sich näher mit dem Stein zu befassen. Sie wollte nur die Krone ablegen und dann hoffen, dass sie den Abstieg ins Tal überleben würde. Oder nicht? Mittlerweile lag in der Aussicht, im ewigen Eis einzuschlafen, kein Schrecken mehr.
Es war ein Wink der Götter, weil es anders nicht erklärbar war, dass der Mond in dieser Nacht hell genug schien, um die Schrift in schwarzen Schatten sichtbar zu machen. Neumond, Wolken - wie leicht hätte Brunhilde übersehen können, dass ein paar Runen aus alter Vorzeit in den Quader gemeißelt waren?
Trotz ihrer Schmerzen, ihrer Müdigkeit und ihres sinkenden Muts fuhr die isländische Prinzessin mit der Hand über den Block. Sie legte den Kopf etwas zur Seite, um die Umrisse der Zeichen besser sehen zu können. Es war eine Schriftform, die nur noch sehr entfernt an jene erinnerte, die heute üblich war. Die Runen waren einfacher, grober, von schlichterer Bedeutung.
Es war eine Aufforderung.
Sieh dich um.
Brunhilde brauchte einen Moment, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verlesen hatte.
Sieh dich um?
An den Quader gelehnt, drehte sie sich, stützte sich mit den Händen ab, damit ihre schwachen Beine nicht nachgaben.
Und sie sah Island. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben.
Von diesem Ort aus hatte sie den Überblick über das ganze Land - seine vulkanschwarzen Ebenen und seine verschneiten Hänge. Im Westen dröhnte und flimmerte es, wo riesige Wasserfälle niederrauschten, um sich dann in breiten Strömen zum Meer zu schlängeln. Sie konnte die Fjorde sehen, in deren Wasser sich das Mondlicht spiegelte, und das Meer, welches die Insel umspülte, als wäre es eine goldene Fassung, die ein Juwel festhielt.
Brunhilde entdeckte auch ein paar Lichter von Feuern, die weit unter ihr von den Menschen in Erinnerung an Hakan entzündet worden waren und noch die ganze Woche brennen würden.
Ihr Blick reichte in jeder Richtung bis zum fernen Horizont. Es gab keine anderen Inseln, keine anderen Reiche als dieses eine. Es gab nur Island.
Ihr von der Kälte taubes Gesicht war nicht in der Lage, die Gefühle auszudrücken, die sie empfand. Sie weinte, ohne dass eine Träne ihr Gesicht herunterlief. Und in diesem Augenblick wurde aus Island mehr - es wurde ihr Island.
Sie stand auf dem höchsten Punkt der Insel, und vor ihren Augen breitete sich aus, was rechtmäßig ihr zustand. Was sie aufzugeben bereit gewesen war. Bis zu diesem Augenblick.
Die Müdigkeit fiel von ihr ab, und sie stellte sich aufrecht hin. Sie streifte die Kapuze ihres Fellmantels ab und setzte die Krone auf ihr Haupt.
Dann hob sie die Arme und schrie aus vollem Hals: »ISLAND!«
Sie war Brunhilde. Brunhilde, Tochter von Hakan - Königin von Island.
Der Regen hatte in der Nacht aufgehört, und auch das kleine Lagerfeuer war erloschen. Am Horizont war die Ahnung eines Schimmers zu sehen, der von der Sonnenscheibe kündete. Doch noch war es dunkel.
Das Geräusch war mit einem Donnergrollen vergleichbar. Lang, tief und walzend trieb es durch den Wald und weckte Siegfried, noch bevor Regin ihm die
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