01 - Der Ring der Nibelungen
Solange er denken konnte, war es das erste Mal, dass der Schmied eine seiner Entscheidungen in Frage stellte. »Du meinst - zurück zur Schmiede?«
Es tat Regin fast körperlich weh, es auszusprechen. »Ich meine - nach Xanten.«
Siegfried blickte die Straße hinab in Richtung Worms, dann wieder hinauf in Richtung Mainz, dann wieder Worms. Er stemmte die Arme in die Hüften. In seinem Kopf schwirrten die Möglichkeiten, und sie schwirrten so schnell, dass es unmöglich war, sie festzuhalten, damit sie ihm bei der Entscheidung helfen konnten.
Da war der Wunsch, Brunhilde wiederzusehen, dessen Erfüllung nun erheblich näher rückte. Und die Chance, am legendären Hof von Xanten unter den großen Haudegen dieser Zeit das Kriegshandwerk zu erlernen. Andererseits -Regin hatte gesagt, dass Worms nur noch eine Tagesreise entfernt lag. Sie hatten den weiten Weg dann ganz umsonst auf sich genommen.
Und schließlich - das gestand sich Siegfried durchaus ein - lockte die Aussicht auf ein Abenteuer, von dem er immer geträumt hatte. Er war gegen die Reise nach Worms gewesen, weil dort angeblich nichts für einen richtigen Mann zu tun war. Das hatte sich offenbar geändert. Wenn überhaupt, dann war es ein Grund mehr, das Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren!
Siegfried schüttelte langsam den Kopf. »Es kann nur von Vorteil sein, wenn wir nach Worms reisen. In seinen Mauern sind wir sicher. Wenn die Burgunder uns Waren abkaufen, erleichtert das den Karren. Und frischer Proviant wird uns helfen, sollten wir uns dann entscheiden, doch gen Norden zu reisen.«
Regin war froh, damit die Last der Entscheidung nicht mehr alleine zu tragen. »Also ist es auch dein Wille, dass wir nach Worms gehen?«
Siegfried nickte entschlossen. »Es ist mein Wille.«
»Dann sollten wir uns beeilen. Ich möchte keine weitere Nacht die Augen schließen müssen, ohne mich von Mauern umgeben zu wissen.«
Ihre Einigkeit bannte ein wenig die Unsicherheit, die mit dieser seltsamen Reise verbunden war. Schweigend zogen sie weiter.
4
Regin und der Ruf des Schicksals
Die Sonnenscheibe mühte sich redlich, während ihrer Wanderung über den Himmelsbogen die trüben Wolken zu durchdringen, die über Burgund lagen wie eine alte graue Decke. Aber es gelang ihr nicht. Nur ein heller, ausgefranster Fleck verriet Siegfried und Regin den Fortgang der Stunden.
Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr häuften sich die Zeichen, die Weiber und Pfaffen als böse Omen gedeutet hätten. Vögel lagen mit halb verbranntem Gefieder am Wegesrand, ein einsames Schwert steckte im Boden, als wäre es ein Grabstein. Wie bleiche Finger kroch ein Nebel aus dem Wald, dessen wirbelnde Schwaden Gestalten aus Utgard zu formen schienen. Das Skelett eines Mannes, schon lange vom Fleisch befreit, hing irgendwo in einer Baumkrone, lächerlich und mahnend zugleich.
Je tiefer sie ins Rheintal vordrangen, desto lichter wurde der Wald, um schließlich ganz den weiten Wiesen und Weinbergen Platz zu machen. Am Wegesrand tauchten die ersten Häuser auf, die von der nahe liegenden Stadt kündeten. Um die Häuser war es allerdings nicht gut bestellt -offene Türen und achtlos weggeworfenes Werkzeug kündeten von der Eile, mit der sie verlassen worden waren, und verkohlte Dächer trotzten mürbe dem Wetter.
»Glaubst du, die Hunnen haben Burgund überfallen?«, fragte Siegfried, als er die Zeichen der Zerstörung sah.
Regin schüttelte den Kopf. »Mundzuk hat seine Horden schon sehr weit nach Süden und Westen geschickt - ich glaube kaum, dass er es wagen würde, sich mit einem König anzulegen, der Rom hinter sich weiß.«
Siegfried war zu neugierig, um nicht wütend über dieses Mysterium zu sein. »Aber welches Reich würde es sonst wagen, Burgund anzugreifen?«
»Ein Reich ist nicht das Einzige, das einem Reich gefährlich werden kann«, verkündete Regin düster.
Sie überquerten die Kuppe eines Hügels, und dahinter tauchte das prächtige Worms auf. Siegfried und Regin hielten kurz inne, um sich einen Überblick über das Tal zu verschaffen.
Auf die Entfernung schien die Stadt unversehrt und geschäftig, und so weit es sich erkennen ließ, war sie von einem meisterlich erbauten Netz von Straßen durchzogen. Eine Mauer, so hoch wie vier Mann, umgab das weit gefass-te Häusermeer, in dessen Herz die Kirche stand, als habe sie die Häuser der Bürger wie Kinder um sich geschart. Der Eindruck täuschte jedoch: Das Gotteshaus war vor nicht langer Zeit erbaut,
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