01 - Der Ring der Nibelungen
Lagen Fell gebunden waren, auf losem Untergrund unsicheren Halt fanden. Schon vor Stunden hatten die ersten Schneeflocken, die an ihrer Kleidung geschmolzen waren, als Wasser den Weg zu ihrer Haut gesucht. Ihre Fingerspitzen fühlte sie ebenso wenig wie die Zehen an den Füßen. An einer Ritze zwischen Fellkappe und Umhang biss die Kälte in ihren Nacken.
Der Nachthimmel war klar und von Sternen übersät, und die Luft war so kalt und dünn, dass die isländische Prinzessin selbst durch das schwere Tuch vor ihrem Mund immer einen scharfen Stich spürte, wenn sie mühsam einatmete.
Sie blickte sich nicht um. Den Weg, den sie gekommen war, kannte sie. Sie blickte auch nicht voraus, denn was vor ihr lag, konnte nur Verzweiflung und Verzagen bringen.
Der Weg zum Rand des Vulkans, der hoch über Burg Isenstein thronte, war nicht in kürzester Strecke zu bezwingen. Zu steil und zu tückisch war der Aufstieg. Stattdessen umkreiste sie den gigantischen Kessel, dabei langsam an Höhe gewinnend. Nur an leichten Senken im ewigen Schnee konnte sie ungefähr erahnen, wo ihre Vorfahren den Pfad zur anderen Seite ihres Reiches angelegt hatten - damals, als der Legende nach der Vulkan noch spuckte und das Eis sich nicht nach Island traute.
Brunhilde wusste schon lange nicht mehr, ob sie ihre Augen zusammenkniff, um sie vor der Kälte zu schützen -oder ob ihre Lider schon so festgefroren waren, dass sie sich nicht mehr öffnen ließen. Das Gefühl für ihren Körper schwand und mit ihm die Schmerzen. Aber sie hatte oft genug im tiefsten Winter an der Seite ihres Vaters gejagt, um zu wissen, dass mit dem Schmerz auch das Leben ging.
Sie hielt kurz inne, duckte sich in den Schnee und spannte ein paar Mal die Muskeln in ihrem Körper an, um das Blut wieder in Bewegung zu setzen.
Das Gold der einfachen, schmalen Krone, die sie in der Hand hielt, stach durch die Handschuhe in ihr Fleisch. Eine Erinnerung daran, dass es noch Teil ihres Körpers war -und dass sie eine Aufgabe hatte.
Es war erst drei Tage her, dass in einer großen Prozession der brennende Leib von König Hakan mit seiner Barke im Fjord versenkt worden war, um auf dem Meeresgrund seinen Platz neben den Ahnen einzunehmen. Drei Tage, in denen Brunhilde schon längst den Thron als ihr Erbrecht hätte beanspruchen müssen, um den Fortbestand des Reiches zu sichern.
Aber sie hatte sich geweigert. Es war ihr unmöglich, das Land allein zu regieren - und unerträglich, es mit einem Mann an der Seite tun zu müssen.
Niemand wusste mehr, woher das Gesetz stammte, dem sich zu unterwerfen sie ihr Leben aufs Spiel setzte. Wenn die Chronisten und Sänger nicht irrten, dann hatten in den letzten zehn Generationen nur zwei Könige sich darauf berufen.
Island, mehr als viele andere Königreiche auf dem Festland, sah Fürstenblut nicht nur als Recht, sondern als Pflicht an. Für den Platz auf dem Thron gehörte das eigene Leben dem Wohl des Volkes. Für die behütete Jugend, die Brunhilde genossen hatte, musste sie eine Schuld begleichen. Und dies verlangte keine Entscheidung, sondern eine Handlung. Erst wenn sie die Krone auf den Quader am Rand des Kraters gelegt hatte, hatte sie das Recht, auf den Thron ihres Vaters zu verzichten und Island zu verlassen.
Ihre tauben Beine und ihre schmerzende Stirn flehten sie an, die Krone einfach in den Schnee fallen zu lassen und wieder zurück zur Burg zu stapfen. Es konnte Jahre dauern, bis ein möglicher Nachfolger kam, der es bis zum Rand des Vulkans schaffte und dort entdeckte, dass die Krone nicht auf dem dafür errichteten Felsaltar lag.
Aber Hakan hatte mit seinem letzten Atem gebeten, sie möge ihre Pflicht erfüllen, so, wie er es immer getan hatte. Und wenn sie schon nicht Königin von Island sein wollte -so würde sie doch die Krone für den nächsten König an der vorgesehenen Stelle niederlegen. Es war das Gesetz, es war die Pflicht - und wenn es der Tod sein sollte, dann musste er sich Brunhilde mit Gewalt holen.
Zwölf Stunden war sie nun schon unterwegs - ohne Essen, ohne Hilfe, ohne Hoffnung. Sie fiel vornüber in den Schnee, und trotz ihrer Erschöpfung rappelte sie sich sofort wieder auf. Wenige Augenblicke in der weißen Masse versprachen den schnellen Tod - und Brunhilde wollte nicht sterben. Aufgeben vielleicht, aber nicht sterben.
Sie schleppte sich weiter, und endlich wurde die Schneedecke unter ihren Füßen dünner. Ihre Hände rubbelten über das in Stoff gewickelte Gesicht, um die von Eis überzogenen Augen
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