01 Jesses Maria: Kulturschock
wenn er mal in eine richtige Kirche gehen möchte, das ist ja keine Sünde. Auch bei denen nicht. Es geht los. Die Orgel klingt noch genauso so schön wie früher. Da kommen immer noch Leute!
„Pünktlichkeit ist eine Zier“, hat meine Mutter immer gesagt. Zum Gottesdienst geht man rechtzeitig los.
Ach herrje, hinter mir sitzt Eva Hansmeier, die blöde Kuh von der Lottoannahmestelle. Daneben sitzt ihr Mann. Und wo sind die Kinder? Ich kann sie nirgends sehen. Ob die am Heiligabend zu Hause sitzen und auf die Eltern warten? Die armen Kinder. Das ist sowieso eine sehr komische Familie. Sie geht arbeiten und er spielt den Hausmann. Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll, ist doch irgendwie unnatürlich.
Mitsingen kann ich leider nicht, ich bin heiser. Der da drüben bewegt auch nur den Mund.
Wann fängt das Krippenspiel denn an? Früher fing das viel früher an.
Hach. Ist das schön. Wie damals. Ich hab auch mal die Maria gespielt. Als Konfirmandin. Ergreifend war das, als die ganze Gemeinde singend vor mir stand und über mir der gelbe Strohstern leuchtete.
Ob die Kinder von heute auch noch ein Gefühl für heilige Momente haben? Ich glaube nicht. Die wünschen sich doch gar nichts mehr, die bestellen nur noch. Unddie Eltern reißen sich sonst was auf, um alles richtig und rechtzeitig ranzuschaffen.
Das ist doch … aber natürlich! Fast hätte ich ihn nicht erkannt, Oliver Hansmeier spielt einen der Hirten. Geht der denn schon zum Konfirmandenunterricht? Deswegen sitzen die Eltern hinter mir allein. Und der Bruder ist einer der Weisen aus dem Morgenland. Typisch, haben sich mal wieder alle reingedrängt. Reichte doch, wenn einer aus der Familie dabei wäre, muss doch nicht gleich die halbe Sippe mitspielen.
Wo ist eigentlich die Frau von Pastor Geldmacher? Die muss doch hier sein, als Pfarrersfrau. Bestimmt sitzt sie in der ersten Reihe, die Familie vom Pfaffen kriegt doch überall ne Extrawurst. Neulich beim Bäcker kam sie nach mir rein und vor mir dran. Ist das richtig? Nein, ist es nicht.
Ich hab nichts gesagt, dagegen kommt man sowieso nicht an. Ich kann sie nirgends sehen.
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“. Das ist mir von der Tonlage her zu hoch. Der da drüben bewegt auch wieder nur den Mund, der singt auch nicht richtig.
Schon halb sechs. Wenn ich den Rinderbraten vor acht fertig kriegen will, wird’s Zeit. Es ist das erste Mal, dass ich Heiligabend kein Kassler mache, sondern Rind. Wegen Hassan. Der darf doch kein Schwein. Ob der das überhaupt merken würde, wenn man ihm Schweinefleisch…? Mit herzhafter Bratensauce…? Nein, das wär gemein. Moslem-Mägen vertragen sicher kein Schwein, kennen die ja nicht. Ich möchte auch keine Hundeessen, wie die Chinesen, auch wenn ich es nicht merken würde. Gott sei Dank hab ich die Kartoffeln schon geschält.
Wie lange dauert denn so ein Gottesdienst? Jetzt kommt noch die Predigt. Hat das früher auch immer so lange gedauert?
Früher war alles anders. Als die Kinder noch klein und wir eine richtige Familie waren. Einmal hab ich von Manni zu Weihnachten den Ring bekommen. Mit sieben Diamanten, und an jedem wichtigen Tag kam später einer dazu, bis der Ring rundum mit Steinen besetzt war. Als Symbol für die Ewigkeit, hat Manni gesagt. Ach, Scheiße. Ewigkeit. Was wird er heute seiner neuen Flamme schenken?
„Nein, Tamara, ich hab nichts, meine Augen tränen ein bisschen und die Nase läuft.“
Ich weiß noch, wie es Weihnachten war, als Manni und ich uns das Geländer für die Kellertreppe geschenkt haben. Das war so teuer, dass wir kein Geld für andere Geschenke hatten, nur die Kinder haben was bekommen. Manni war traurig, denn er hatte sich das Aquarium gewünscht. Mit dem Aquarium wär’s ja nicht zu Ende gewesen, es wären noch Pflanzen und Sand und Fische dazu gekommen. „Eins geht nur“, hab ich zu ihm gesagt, „aber so ein Geländer ist doch eine Anschaffung für die Ewigkeit.“ Schon wieder Scheiß-Ewigkeit.
Ich hab gesagt: „Wenn wir mal alt sind, können wir sagen: Weißt du noch? Das Kellertreppengeländer haben wir uns damals geschenkt und es war so teuer,dass wir uns nichts anderes leisten konnten. Das sind später schöne Erinnerungen“, habe ich gesagt. Heute ist alles Erinnerung. Auch Manni. Und das Haus mit dem Treppengeländer gehört heute diesen Russen.
„Nein, Tamara, es ist alles in Ordnung, wirklich.“
Wie? Schon zu Ende? Das war doch eben der Abschiedssegen, oder? Das hat ja gut geklappt, dann
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