01 Jesses Maria: Kulturschock
ausgebaut. Ein vollmundiger Tropfen mit seinen zarten nussigen Düften und reifen Apfelaromen…“
Nussduft. Apfelaroma. Im Wein. Und wieso heißt ein gelber Weißwein Grauburgunder?
Jetzt macht er wieder die Fingerabdruckprobe, hält das Glas hoch, dreht, steckt seinen Zinken rein. Derdarf aber auch nicht ein bisschen Schnupfen haben, wenn er so eine Vorstellung gibt. Jetzt kauen alle drauf rum. Wie der da drüben die Augen verdreht. Dieser Wein ist leckerer als der Kellergeister von vorhin.
„… durch seine große Frucht kommen auch alle „halbtrockenen“ Weintrinker mit diesem Tropfen zurecht…“
Hätte ich auch nicht gedacht, dass der Geschmack was mit der Größe der Weintrauben zu tun hat. So ein bisschen merke ich das zweite Glas aber schon. Jetzt gibt’s Tomaten mit Käse am Stück, nicht als Schmierkäse. Und wieder Weißbrot. „Ja, gerne, schenken Sie gerne noch ein Schlückchen ein.“
„… Magie der frischen Rebe mit traubigem Bukett, ein blitzsauberer, fruchtiger Wein, der riecht und schmeckt, als ob man in eine frische, saftige Traube beißt…“
Das wäre jetzt mal logisch, wenn ein Wein nach Weintrauben schmeckt. Dieser schmeckt eher wie saure Rosinen. Nicht sauer? Trocken?
„Nee, Tamara, der ist richtig sauer, erzähl mir doch nichts.“
„… aber selten haben wir einen Wein erlebt, wo sich dieses in so glückvoller Vollendung mit einem harmonischen, runden Körper paart…“
Ach Mist, es ist doch überall dasselbe, ohne Sex verkauft keiner was. Wer hat sich jetzt mit wem gepaart? Und wer ist rund und dick? Cracker und Trauben. Und Sorte drei. So was von lecker!
„… feines Aroma von frischen Haselnüssen und Tropenfrüchten …“
Der erzählt einen Quatsch! Schokolade kann nachNüssen schmecken, aber Wein doch nicht.
„… vortrefflicher Schmelz im Gaumen, ganz sauber und lebendig …“
Wenn ich Schmelz im Mund habe, ist das Zahnschmelz, der ist auch sauber und lebendig.
„...und klingt dann mit einem munteren, ganz feinen Finale aus…“
Das ist dann der finale Schluck. Sozusagen.
„… feiner, harmonischer Ausklang mit schönem Nachhall...“
Ich lach mich weg, ein Wein mit schönem Nachhall! Beim Bier heißt das, was danach kommt, Kater. Jetzt wird es international.
Italiener. Rot. Mandeln und Pistazien. Keine Chips?
„… dunkles Rubinrot…“
Ja. Ich sehe das wohl.
„… feine, grazile Frucht …“
Also kleine Trauben?
„… lebendige, mineralische Note, schöner, wohlkomponierter Fruchtkörper …“
Ich kann diese Geschlechtswerbung nicht mehr ertragen!
„… satte runde Kirschfrucht, weiche, feine Tannine, mit toller Lebendigkeit…“
Wer nicht lebendig ist, ist tot. Toter Wein. Tote Hose. Die haben hier gar keine Musik. Meine Zunge ist ganz dick.
„… Nase mit dunklen Beerenfrüchten…“
Der macht echt klasse Witze. Wein mit Nase. Ich nehme noch so’n Kleinen, ja. Einen Zwergwein. Zwerg Nase…
„... mit dieser rau samtigen Textur und dem nahezu bäuerlichen Charme…“
Text. Weintext. Nee, oder? Die Rotkohltussi grinstmich vielleicht blöde an. Die kennt den Text auch nicht, glaub ich. Noch’n Rotwein. Meine Augen gehen immer über kreuz.
„… Tiefdunkle Farbe, feine, dichte und komplexe Beerennoten, die dennoch federleicht über die Zunge tanzen…“
„Tanzen? Machen die doch noch Musik?
„… weiche, aber sehr präsente Tannine …“
Ist das also ein Waldwein, Tamara? Weil der was von Tannen gesagt hat. Hörste mir nich zu?
„… für einen aromatischen langen Abgang…“
EIN WAS?
„Hihi. Mach ich getz auch, ein Abgang, aber ein ganz kurzen. Kommssu mit, Tammara?“
© 2008 Carla Berling, Köln
www.carla-berling.de
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Herstellung und Verlag: Books on Demand , Norderstedt
Cover & Satz: Martin Schaack
ISBN: 978-3-8482-5738-6
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