01 - komplett
mir nicht, zehn Pfund seien nichts für dich, William. Sag mir nur eins. Trotz all der vielen Dinge, für die du diesen unerwarteten Gewinn hättest benutzen können, hast du auch nur einen Moment gezögert, ihn trotzdem zu meinem Nutzen zu verwenden?“
„Du machst zu viel Aufhebens darum, Lavinia“, winkte er ab. „Es ist nur Geld und lässt sich nicht mit dem vergleichen, was du mir gegeben hast.“
„Also mache ich zu viel Aufhebens um meine Schulden bei dir. Aber deine Schulden sind eine riesige Last und können nie wieder zurückgezahlt werden?“ Sie schüttelte bedrückt den Kopf. „O William, Liebe kann man nicht mit einer Summe festlegen. Sie lässt sich nicht ins Kassabuch eintragen. Weder Geschenke noch Geld können sie erkaufen. Man vergilt Liebe nur mit Liebe, William.“
Voller Erwartung sah sie ihn an. Er brauchte nur einen Schritt nach vorn zu machen und sie zu umarmen. Sie würden sich küssen, und Lavinia würde ihm gehören. So unvernünftig es war, war sie doch bereit, ihn zu lieben – in guten wie in schlechten Tagen –, obwohl er ihr nur schlechte und noch schlechtere Tage bieten konnte.
„Das interessiert mich nicht“, sagte er kühl. „Weil ich dich nicht liebe.“ Er zwang sich, ihr in die Augen zu sehen und sich nicht von ihrem Schmerz rühren zu lassen. Dass sie ihn gleich endgültig aufgeben würde, sollte seine wohlverdiente Strafe sein. Es war besser, sie jetzt zu kränken, als sie mit sich ins Elend hinabzuziehen.
Doch sie zeigte keine Betroffenheit. Ihre Augen füllten sich nicht mit Tränen.
Stattdessen schüttelte sie den Kopf. Ganz bedächtig und ruhig. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und legte die Hände auf seine Arme. Ihre süßen Lippen waren nur Zentimeter von seinen entfernt. Eine kleine Bewegung genügte, und sie würde ihn küssen. Und wenn sie das jetzt tat, würde sie erkennen, was für ein Lügner er war.
„William“, flüsterte sie, und er spürte ihren warmen Atem auf seinen Lippen, „hältst du mich wirklich für eine solche Gans, dir nach alldem deine dumme Behauptung zu glauben?“
„Nein?“ Er brachte nur dieses eine Wort mit letzter Kraft hervor, so sehr war er bemüht, nicht jede Vernunft in den Wind zu schlagen und sie in die Arme zu reißen.
„Nein“, sagte sie mit großer Entschiedenheit. „Du bist hoffnungslos in mich verliebt.“
Er hatte sein Bestes gegeben, es zu leugnen. Er hatte sogar versucht, es vor sich selbst zu leugnen. Aber Lavinia sprach die Wahrheit so nüchtern aus, als würde sie die neuesten Baumwollpreise aus der Zeitung vorlesen. Und sie hatte natürlich recht. Bloß konnte er es nicht offen zugeben, sondern lehnte nur in stummem Eingeständnis die Stirn an ihre. Es stimmte, er war verliebt in sie und würde es für immer sein.
Doch das änderte nichts an seiner Entscheidung.
Lavinia ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Fast hätte William sie zurückgehalten und konnte sich nur im allerletzten Moment noch fassen.
„Wie die Dinge aber nun einmal stehen“, sagte sie leise, „gebe ich mich mit Hoffnungslosigkeit nicht zufrieden.“
Er konnte sie nicht haben, und dennoch traf ihre Zurückweisung ihn wie ein Schlag.
„Lavinia, ich wage es nicht ...“
„Du sollst aber wagen“, unterbrach sie ihn heftig. „Das ist ein Befehl, William. Wage es. Hoffe. Wenn du mein Geschenk nicht annehmen willst, werde ich auch deins nicht annehmen. Und versuch besser nicht dir auszumalen, was ich tun werde, um deine zehn Pfund zu verdienen.“
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und betrat die Leihbibliothek.
Obwohl ihr schien, Tage wären vergangen, war es immer noch sehr früh am Morgen, als Lavinia leise die Treppe hinaufschlich. Sie kam, wie sie gegangen war, mit ihren Stiefeletten in einer Hand. Sobald sie allerdings die Wohnung betreten hatte, musste sie feststellen, dass sie nicht allein war. James saß, wach und bereits angekleidet, am Küchentisch. Stumm sah er ihr zu, wie sie hereinkam, ihren Umhang aufhängte und die Stiefeletten auf den Boden stellte. Er fragte sie nicht, wo sie gewesen war, und machte ihr keine Vorwürfe. Doch das brauchte er auch nicht. Lavinia machte sich selbst welche.
Ihr Blick fiel auf die Bücher am anderen Ende der Küche, in denen sie sorgfältig die Abrechnungen der Familie notierte. Wie sehr hatte sie gehofft, von ihren Ersparnissen einen Schal für James kaufen zu können. Ein weiteres Zeichen dafür, dass sie sich insgeheim wünschte, ihn warm einzuwickeln, ihn zu
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