01 - komplett
sich vor, die Verhandlung sei ein Damenkleid – Sie kaschieren die weniger schmeichelhaften Teile der Figur und heben die verlockenden hervor.“ Er machte eine vage Geste in Höhe seiner Brust. „Gerade genügend Verzierung, um das Gericht zu überzeugen, nicht wahr?“
Was immer der windige kleine Mann ihm auch einzureden versuchte, William war im Grunde überzeugt davon, dass es keine Aussicht auf Erfolg für ihn gab. Er fand vielleicht keine Zeugen, oder das Gericht würde ihnen nicht glauben. Außerdem würde die Witwe sich gewiss gegen ihn wehren. Trotzdem blieb eine kleine Hoffnung.
Doch warum empfand er ein so heftiges Gefühl des Abscheus? Warum kostete es ihn solche Überwindung, sich auf das Geschäft mit diesem schleimigen Kerl einzulassen?
Er öffnete schon den Mund, um sein Einverständnis zu äußern, da meldete sich wieder einmal seine innere Stimme.
Du brauchst es nicht zu tun.
Die Stimme irrte sich. Er musste es tun. Es bestand die Möglichkeit, dass er seine Anstellung verlor. Lavinia war womöglich schwanger. Er musste sich auf das schmutzige Spiel einlassen, wollte er sie für sich gewinnen.
Nein, du brauchst es nicht zu tun.
Dieses Mal erkannte er die Worte als das, was sie wirklich waren. Eine Warnung, die er auf keinen Fall überhören durfte. Selbst wenn er es so lange geleugnet hatte, war ihm dennoch und trotz allem, was geschehen war, ein letzter Rest von Ehrgefühl geblieben. Es hatte nur darauf gewartet, geweckt zu werden.
So lange war er davon überzeugt gewesen, er sei zu tief gesunken, um je wieder stolz auf sich sein zu können. Er hatte sich unehrenhaft verhalten, daran gab es keinen Zweifel. Doch konnte er seine Ehre nicht zurückgewinnen, indem er um Vergebung bat. Weder Lavinia noch sonst jemand war in der Lage, ihm seine Sünden zu erlassen.
Wenn er jemals hoffen wollte, Lavinia wieder in die Augen sehen zu dürfen, musste er ein ehrenhafter Mann werden.
Dem Anwalt entging sein Zögern nicht.
„Denken Sie an die Rache“, sagte er eindringlich, „die Sie an dem Mann ausüben könnten, der Ihren Vater zerstört hat.“
Ein ganzes Jahrzehnt hatte William an kaum etwas anderes gedacht. Wie könnte er allerdings Vergebung für seine eigenen Sünden verlangen, wenn er sie nicht auch dem Mann erteilte, der ihm Unrecht getan hatte?
Allerdings bedeutete es, jede Hoffnung auf die fünftausend Pfund aufgeben zu müssen. Auch Lavinia würde er dann niemals bekommen.
„Nein“, sagte er dann doch. Es war ein wundervolles Gefühl zu wissen, dass er die Kraft aufbringen konnte, ehrenhaft zu handeln, obwohl der Preis dafür so groß war.
Der Anwalt runzelte verwirrt die Stirn. „Nein? Was können Sie damit meinen?“
„Nein, ich werde die Wahrheit nicht bis zur Unkenntlichkeit ausschmücken. Nein, ich werde nicht lügen. Nein, ich werde keine Rache ausüben, damit Sie Ihr Honorar einstreichen können.“ Bis vor Kurzem hätte er anders entschieden, doch jetzt war er entschlossen, ein besserer Mensch zu werden.
„Wer wird denn jemals erfahren, dass Sie gelogen haben?“
William zuckte die Achseln. „Ich.“
„Sie?“ Der Anwalt lachte verächtlich. „Dann sind Sie auf sich allein gestellt. Männer wie Sie werden niemals von ihrer Armut erlöst.“
Ungerührt wandte William sich ab, um zu gehen.
Er hörte den Anwalt noch wütend rufen: „Ich hoffe, Sie haben viel Freude an Ihrer armseligen Ehre. Denn mehr als das werden Sie wohl kaum je besitzen.“
Die Worte klangen gar nicht mehr wie ein Fluch in Williams Ohren.
Morgens an Heiligabend teilten Lavinia und ihr Bruder sich die Verantwortung der Aufsicht in der Bibliothek. Lavinia war froh darüber, denn in Gedanken war sie heute nicht bei der Sache. Ständig musste sie an ihre erste Begegnung mit William denken.
Er hatte sichtlich verlegen vor ihr gestanden und um eine Subskription gebeten.
Wenn sie ein Buch in sein Regal zurückstellte, erinnerte sie sich an die Art, wie William immer mit dem Finger über die ledergebundenen Buchrücken gefahren war auf der Suche nach einem bestimmten Band. Damals hatte sie die Bücher beneidet.
Aber inzwischen war sie von ihm mit weit größerer Zärtlichkeit und Hingabe berührt worden.
Sosehr er es auch versucht hatte, es war ihm nicht gelungen, die Bedeutung seiner Gesten zu verbergen. Wieder und wieder hatte er ihr auf diese Weise gesagt, wie sehr er sie liebte. Er liebte sie, deswegen hatte er erbärmlich verwässerten Tee für sie aufgebrüht. Er liebte sie und
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