01 - komplett
herzoglichen Güter entziehen, wenn er nicht heiratete. Alex hatte den Familiensitz von klein auf leidenschaftlich geliebt. Das Land und die Leute waren sein Leben. Er war der Einzige in der Familie, der sich überhaupt etwas aus ihnen machte. Sein Vater hätte keine wirksamere Waffe wählen können.
Das Gewicht des Buches in seiner Tasche brachte Alex wieder auf Melicent zurück.
Bei ihrer Hochzeit mochte sie ja eine unschuldige Jungfrau gewesen sein, aber irgendwo – oder mit irgendjemandem – musste sie seither Erfahrungen gesammelt haben. Wieder stieg Wut in ihm hoch. Wie konnte ausgerechnet Melicent mit ihrem süßen, ehrlichen Blick, ihrem herzlichen Lächeln und ihrer Unschuld zu Lady Loveless werden, der schamlosen Autorin erotischer Abenteuer? Es schien unmöglich.
Nach zwei Jahren Ehe und einen Monat nach dem Tod des Duke of Davenhall hatte Melicent ihm eröffnet, dass sie nach Yorkshire gehen wolle, um sich um ihre Mutter zu kümmern, und in absehbarer Zeit nicht zurückzukehren gedenke. Ihr eigener Vater war im Vorjahr gestorben, ihre Mutter war invalide, und Melicents nichtsnutziger Bruder geriet allmählich außer Kontrolle.
Zum ersten Mal in ihrer gleichgültigen Ehe hatten sie miteinander gestritten. Alex hatte ihr verboten abzureisen. Jetzt erkannte er, dass er aus Stolz gehandelt hatte; es war eine Sache, wenn er Melicent mit sorglosem Desinteresse behandelte, aber etwas ganz anderes, wenn sie sich ihm widersetzte. Und sie hatte sich ihm widersetzt.
„Du willst mich doch gar nicht“, hatte sie voll Bitterkeit gesagt. Rings um sie lagen ihre Sachen verstreut, während sie voll Hast eine Reisetasche packte. „Du hast mich nie gebraucht. Mama braucht mich jetzt.“
Zwei Jahre hatte er nichts mehr von ihr gehört.
Jetzt würde sie von ihm hören. Er würde nach Yorkshire fahren und seiner fehlgeleiteten Ehefrau gegenübertreten. Er blieb stehen. Nein. Er würde nach Yorkshire gehen und seine fehlgeleitete Ehefrau verführen – und zwar genau in dem Stil, den Lady Loveless beschrieb. Er würde sie als die Dirne bloßstellen, die sie doch sicher war.
2. KAPITEL
Peacock Oak, Yorkshire
Zwei Wochen vor Weihnachten
Lady Melicent Beaumont setzte die Feder ab und stützte das Kinn in die Hand. Es war unmöglich, sich zu konzentrieren, solange die quengelige Stimme ihrer Mutter aus dem Obergeschoss herabtönte: „Ich will Melicent! Wo ist sie? Und wo ist der Arzt? Ich habe doch schon vor Stunden nach ihm schicken lassen! Mir ist sterbenselend, und wenn er nicht bald kommt, werde ich wohl hier und jetzt in meinem Bett vergehen. Nein, schüren Sie das Feuer nicht noch weiter an, dummes Weib! Hier ist es viel zu heiß, schier zum Ersticken ...“
Melicent seufzte. Sie hätte Mrs. Lubbock keine allzugroßen Vorwürfe gemacht, wenn diese versucht gewesen wäre, das Kissen zu nehmen und es ihrer Mutter aufs Gesicht zu drücken. Mrs. Durham, eine Hypochonderin, deren eingebildete Krankheiten immer viel schlimmer waren als die anderer Leute, hatte sich nach dem Tod ihres Mannes ins Bett gelegt und ließ sich seither von vorne und hinten bedienen. Melicent hatte nur ein paar kurze Wochen gebraucht, um zu erkennen, dass ihre Mutter eine Tyrannin war. Leider war es da zur Umkehr schon zu spät. Nach dem schrecklichen Streit mit ihrem Mann wollte und konnte sie nicht reumütig nach London zurückkehren. Und so war sie hier in Peacock Oak gefangen, in dem kleinen Haus, in dem eine entfernte Verwandte, die Duchess of Cole, sie wohnen ließ, gefangen in einem trostlosen Leben mit ihrer schrecklichen Mutter, ihrem faulen Bruder und einer sehr langmütigen Dienstbotin.
„Miss Melicent arbeitet, Madam“, hörte sie Mrs. Lubbock geduldig sagen. Die Haushälterin war ein Schatz, unerschütterlich und zum Glück vollkommen unempfindlich gegen Beleidigungen. „Ich habe nach dem Arzt geschickt ...“
„Ich will ihn nicht sehen!“ Mrs. Durham wurde allmählich schrill. Melicent seufzte.
Sie las noch einmal die Zeilen durch, die sie eben geschrieben hatte.
„Borwick Hall wurde im Stil des späten siebzehnten Jahrhunderts erbaut. Der Salon weist schmückende Stuckelemente auf ...“
Sie seufzte noch einmal. Wie trocken das klang. Mr. Foster, der Antiquar, für den sie arbeitete, mochte in Architekturführern keine blumige Sprache, und so war ihre Prosa so öde, dass selbst der eifrigste Landsitzbesucher dabei einschlief.
Mrs. Lubbocks schwere Schritte dröhnten auf der Treppe, und dann klopfte die
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