01 - komplett
Heiligabend dämmerte klar und trocken herauf. Der Wind hatte sich gelegt, sodass man das Gefühl hatte, es sei ein wenig wärmer geworden. Rowan überließ Penny ihrer Patentante und zog sich für einen Spaziergang um. Lady Rolesby war zu der Einsicht gelangt, dass Lord Danescroft sofort von Pennys Eignung zur Ehefrau überzeugt werden könnte, wenn er sie singen und Klavier spielen hörte. Da ihr nur noch ein Tag zum Üben blieb, war sie gekommen, um ihr Patenkind ins Musikzimmer zu scheuchen.
Rowan konnte da nichts für sie tun – Penny spielte ganz gut, wenn auch ziemlich steif, und sie hatte eine süße Singstimme, die man in Gesellschaft allerdings nie zu hören bekam, weil sie nie mehr als ein panisches Flüstern herausbrachte.
Normalerweise machte sie sich allgemein beliebt, indem sie anbot, selbstsicherere junge Damen auf dem Klavier zu begleiten oder auf kleinen Gesellschaften zum Tanz aufzuspielen. Ein Vortrag von ihr würde Lord Danescroft nur dann fesseln, wenn sie auf seinem Schoß säße, damit er überhaupt etwas hörte.
Die Vorstellung entlockte Rowan ein Lächeln. Sie war gerade auf dem zerfurchten Weg nach Tollesbury Parva unterwegs, einem kleinen Weiler, dessen größtes Gebäude das Lion & Unicorn war, eine Poststation an der Hauptstraße. Viele Gäste hatten ihre Kutschen, Pferde und Burschen dort gelassen, um ihre Gastgeber zu entlasten. Penny hatte sich mit ihrer Zofe Kate Jessop in der Familienkutsche auf die Reise gemacht. Ein paar Meilen später, außer Sichtweite von Pennys gestrenger Stiefmama, war Rowan mit Alice Loveday und all ihrem Gepäck in einer Droschke zu ihnen gestoßen.
Die Zofen, der Kutscher der Maylins und der Stallbursche waren nun mit Rowans Gepäck in drei Räumen im Gasthof untergebracht und freuten sich auf ein paar Tage Urlaub von ihren Alltagspflichten bei all den Unterhaltungen, die ein Gasthof zu bieten hatte.
Die vier saßen im größten Zimmer beim Kartenspiel, als Rowan hereinkam. Die Männer verkrümelten sich eilig, während Kate und Alice die Karten vom Tisch wischten und nach Tee läuteten.
Auf Rowans besorgte Frage versicherten sie ihr, sie hätten es durchaus gemütlich und bequem, und erkundigten sich dann: „Wie kommen Sie zurecht, Mylady?“
„Ganz gut, Alice. Ich glaube, noch habe ich Ihnen keine Schande gemacht, und Miss Penelope ist sehr geduldig. Aber ich habe Ihnen das hier mitgebracht – Miss Penelopes Organzakleid. Ich bekomme den Weinfleck einfach nicht heraus – und außerdem brauche ich zum Dienstbotenball morgen etwas zum Anziehen.“
Kate schüttelte den Kopf, als sie den Fleck sah, und eilte geschäftig nach unten, um sich in der Küche irgendein Wundermittel auszuleihen, auf das sie schwor, während Alice die Koffer hervorzog und öffnete.
„Wie wäre es mit ihrem zweitbesten cremefarbenen Seidenkleid?“
„Zu elegant, meinen Sie nicht?“ Zweifelnd betrachtete Rowan den üppigen Spitzenbesatz.
„Vermutlich. Und wir haben nicht genügend Zeit, um einfachere Spitze für den tiefen Ausschnitt zu bekommen.“ Alice legte das Gewand zusammen und kramte weiter unten. „Hier! Da ist das bronzegrüne Seidenkleid mit dem undefinierbaren Fleck am Saum, der einfach nicht rausgehen will. Aber er fällt nicht so arg auf – ein Kleid wie dieses könnte eine Zofe gut von einer Herrin geschenkt bekommen haben.“
„Hervorragend. Und die braunen Slipper, denn die, die ich für das Kleid habe anfertigen lassen, würde ich mir als Zofe nicht leisten können, und die cremefarbenen Glacéhandschuhe, die schon so oft gereinigt wurden. Miss Penelope kann mir bei meiner Frisur helfen.“
Alice begann die passende Unterwäsche herauszusuchen, während Rowan die Schatulle mit dem schlichteren Schmuck unter die Lupe nahm. „Dieser Kamm, die Ohrringe mit den Bernsteintropfen und das spitzenbesetzte Taschentuch. Fein.“
Vom Tee und dem Wissen erwärmt, dass ihr Personal gut untergebracht war, zog Rowan sich den Schal bis zur Nase hoch und machte sich mit dem Korb über dem Arm auf den Rückweg.
„Hallo. Haben Sie sich auf einen Krug Punsch hier eingefunden?“
Rowan fuhr zusammen, ließ den Korb fallen und bückte sich eilig nach dem Henkel, ehe der Inhalt auf die Erde fallen konnte. „Was? Nun schauen Sie doch, was Sie angerichtet haben, Lucas!“
„Bitte um Verzeihung“, erwiderte er, nahm ihr den Korb ab und hängte ihn sich über den Arm. „Und, was ist nun mit dem Punsch?“
„Gewiss nicht. Aber vermutlich sind Sie deswegen
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