01 - Nacht der Verzückung
Stimme des Majors, den
sie gekannt hatte. Unwillig sah sie ihm in die Augen. »Warum hast du dich nicht
gewehrt?«
»Da
waren die französischen Gefangenen«, fing sie an. Ihr Atem ging stoßweise, als
sie versuchte, sich nicht daran zu erinnern, was mit ihnen geschehen war. »Weil
ich Angst hatte. Solche Angst. Weil ich feige war.«
»Lily.«
Er sprach noch immer mit derselben Stimme. Er blickte ihr gerade in die Augen
und machte es ihr unmöglich wegzusehen. Plötzlich war er wieder der
befehlshabende Offizier, nicht ihr Ehemann. »Es war Vergewaltigung. Du warst
nicht feige. Es ist die Pflicht eines Soldaten, in Gefangenschaft auf jede
erdenkliche Art und Weise zu überleben - und du warst eine
Soldatentochter und eine Soldatenfrau. Die Frage der Feigheit stellt sich
nicht. Es war Vergewaltigung. Es war kein Ehebruch. Ehebruch setzt
Einverständnis voraus.«
Neville
klang so bestimmt, seiner Worte so sicher. Hatte er Recht? War sie kein
Feigling? Keine Ehebrecherin?
»Lass
mich dich halten«, sagte er leise. Er sprach jetzt mit einer anderen Stimme.
»Du siehst so unendlich einsam aus, Lily.«
Eine
Frau, die in eine fremde Welt heimgekommen war und zu einem Ehemann, der im
Begriff war, eine andere zu heiraten. War es überhaupt möglich, eine größere
Erniedrigung zu fühlen? Würde sie je wieder zu sich selbst zurückfinden, zu dem
heiteren, zuversichtlichen, glücklichen Ich, an das sie sich erinnern konnte,
zu dem Ich, das seit ihrer einzigen Nacht der Liebe verschollen war?
Sie
ließ die Schultern hängen und blickte auf ihre Hände. Als er sich vor sie
stellte, ihre Oberarme umfasste und sie an sich heranzog, entspannte sie sich
für einen Augenblick, ließ ihren Kopf an seiner Schulter ruhen und spürte mit
ihrem ganzen Körper seine Wärme und Kraft. Sie erlaubte sich den Luxus, sich
sicher zu fühlen, sich geborgen zu fühlen, sich zu fühlen, als sei sie
heimgekommen. Er roch gut nach Moschus und Seife und nach purer Männlichkeit.
Dennoch
fühlte sie sich wie jemand, der am Ende des Regenbogens angekommen ist, nur um
herauszufinden, dass dort überhaupt nichts war - kein Schatz, nicht
einmal mehr das Licht des Regenbogens. Nichts. Und kein Glaube mehr an
Regenbögen. Nur der Kern ihres Selbst, auf dem sie eine neue Identität aufbauen
musste, ein neues Leben.
Sie zog
sich von ihm zurück, bevor sie sich in eine Abhängigkeit verlor, auf die sie
sich nicht verlassen konnte.
»Es
wäre für uns beide besser gewesen«, sagte sie, »wenn ich gestorben wäre.«
»Nein,
Lily«, sagte er mit scharfer Stimme.
»Kannst
du mir sagen, dass es dir in den vergangenen anderthalb Jahren nicht durch den
Kopf gegangen ist, dass es so besser war?«
Sie
machte nur eine kurze Pause, aber es entging nicht ihrer Aufmerksamkeit, dass
er sich nicht sofort bemühte, ihr zu widersprechen.
»Wenn
ich am Leben gewesen wäre - wenn du gewusst hättest, dass ich am
Leben war - du hättest mich niemals hierher gebracht. Du hättest eine
Entschuldigung gefunden, mich in weiter Ferne zu halten. Du hättest es mich
nicht spüren lassen. Du hättest mir erklärt, dass es zu meinem eigenen Besten
sei, und du hättest Recht gehabt. Aber du hättest mich nicht hierher gebracht.«
»Lily.«
Er war an eines der Fenster getreten und starrte hinaus in die Dunkelheit. »Du
kannst das nicht wissen. Ich kann es nicht wissen. Ich weiß nicht, was geschehen
wäre. Du warst meine Frau. Du warst ... mir teuer.«
Ah, sie
war ihm teuer. Nicht die Liebe seines Herzens, wie er sie in jener Nacht
genannt hatte? Lily lächelte traurig, setzte sich auf die Bettkante und legte
in der kühlen Abendluft die Arme um sich.
»Diese
ganze Situation ist einfach unmöglich. Zu sagen, dass ich hier fehl am Platze
bin, ist so überflüssig, dass es schon lachhaft wäre. Sie ist nicht fehl
am Platze, nicht wahr? Lauren? Sie ist mit all dem aufgewachsen und war dazu
bestimmt, deine Frau, deine Gräfin zu sein. Stattdessen ist sie jetzt
unglücklich, deine Zukunft liegt in Trümmern und ich ... Na ja.«
»Lily.«
Er war zu ihr gekommen, war vor ihr in die Hocke gegangen und hatte ihre Hände
in seine genommen. »Nichts ist unmöglich. Hör dich an. Ist das Lily Doyle, die
da spricht? Lily Doyle, die kreuz und quer über die Iberische Halbinsel
marschiert ist, unbeeindruckt von der Hitze des Sommers, der bitteren Kälte des
Winters, den Gefahren von Krieg und Hinterhalten, den Unannehmlichkeiten und
Krankheiten des Lagerlebens? Lily Doyle, die immer und
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