01 - Nicht ohne meine Tochter
erfahren, wie lange, wie weit wir uns auf diese Weise noch durchschlagen mussten. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Selbst wenn ich die Ziffernblätter meiner Armbanduhr in der Dunkelheit zu erkennen vermocht hätte, konnte ich meinen Griff nicht einen Augenblick lang lockern. Zeit und Raum waren leere Begriffe. Wir waren für alle Ewigkeit in der finsteren, eisigen Einöde verloren. Plötzlich hörte ich vor uns Stimmen. In meinem Herzen machte sich eine tiefe Verzweiflung breit. Das musste Pasdar sein, ich war mir sicher. Sollten wir jetzt, nachdem wir so viel durchgemacht hatten, gefangen werden? Aber der »Mann, der wiedergekommen war« führte uns sorglos weiter, und in wenigen Minuten trafen wir auf eine Schafherde. Wie seltsam, diesen Tieren hier zu begegnen! Wie überlebten sie in diesem widrigen Klima? Ihr Fleisch musste zäh sein, dachte ich, und beneidete sie um ihre Wollmäntel.
Als wir uns nahten, sah ich, dass der alte Mann, unser Pfadfinder, sich mit dem Hirten unterhielt, einem Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war. Ich konnte von ihm nur die Umrisse seines Gesichts und den Hirtenstab erkennen. Der Schäfer begrüßte den »Mann, der wiedergekommen war« mit leiser Stimme. Er nahm ihm die Zügel aus der Hand und führte uns einfach weiter, ließ die Schafe zurück und benutzte seinen Stab, um sein Gleichgewicht zu halten. Ich sah mich um, instinktiv auf der Suche nach meinem Beschützer. Aber er war fort, ohne Lebewohl. Der alte Mann ging wieder voraus, um den Weg zu suchen, und weiter ging es, jetzt unter Führung des Hirten.
Wir überquerten einen weiteren Berg. Dann noch einen. Wir schafften es, uns auf dem Pferd zu halten, aber meine Arme fühlten sich an, als wären sie vom Körper abgetrennt und an die Mähne angefroren. Ich spürte sie nicht mehr. Wir werden es nicht schaffen, weinte ich stumm vor mich hin. Nach all diesen Strapazen werden wir es nicht schaffen. In meinen Armen zitterte Mahtab, es war das einzige Lebenszeichen von ihr. Irgendwann blickte ich zufällig nach oben. Vor uns, auf dem Kamm eines höheren, steileren Berges, sah ich etwas Gespenstisches, schwarze Umrisse hoben sich gegen den unheimlichen gedämpft-weißen Sturmhimmel ab. Dort oben standen mehrere Pferde mit Reitern. »Pasdar.«, flüsterte ich vor mich hin. Von allen denkbaren Schicksalsschlägen war, in die Hände der Pasdar zu fallen, der schlimmste. Ich hatte schon so viele Geschichten über die Pasdar gehört - und alle waren schlimm. Unweigerlich vergewaltigten sie ihre weiblichen Opfer - auch junge Mädchen -, bevor sie sie umbrachten. Mich schauderte, als ich an ihr widerliches Motto dachte. »Eine Frau sollte nicht als Jungfrau sterben.« Wenn es möglich war, noch tiefer zu erschauern als je zuvor, dann tat ich es jetzt. Weiter ging es.
Nach einer Weile hörte ich wieder Stimmen vor uns, diesmal lautere, sie schienen sich zu streiten. Jetzt wusste ich sicher, dass wir von den Pasdar geschnappt worden waren! Ich umklammerte Mahtab fest, bereit, sie zu verteidigen. Tränen von Schmerz und Verzweiflung gefroren auf meinen Wangen. Wachsam hielt der Hirte das Pferd an. Wir lauschten. Der Wind trug die Stimmen bis zu uns. Vor uns waren mehrere Männer, die anscheinend keinen Versuch machten, ihre Anwesenheit geheimzuhalten. Aber der Ton ihrer Unterhaltung klang nicht mehr nach Streit. Wir warteten darauf, dass der alte Mann zurückkam, aber er kam nicht. Minuten voller Anspannung vergingen. Endlich schien der Hirte der Meinung zu sein, es sei sicher genug, um weiterzugehen. Er zog am Zügel und führte uns schnell auf die Stimmen zu.
Als wir uns näherten, stellte unser Pferd seine Ohren auf, weil es andere Pferde hörte. Wir kamen zu einer Gruppe von vier Männern, die sich friedlich unterhielten, als befänden sie sich auf einem normalen Ausflug. Sie hatten drei Pferde dabei. »Salam.«, sagte einer der Männer leise zu mir. Selbst inmitten des Sturms klang die Stimme vertraut, aber ich brauchte einen Augenblick, bis ich sein Gesicht erkennen konnte. Es war Mosehn! Er war gekommen, sein Versprechen einzulösen. »Ich habe noch nie jemanden mit über die Grenze genommen.«, sagte der Anführer dieser Banditen. »Aber Sie nehme ich mit. Heute Nacht bringe ich Sie hinüber. Steigen Sie jetzt vom Pferd herunter.« Ich reichte ihm zuerst Mahtab und glitt dann dankbar hinunter, um zu entdecken, dass meine Beine genauso taub waren wie meine Arme. Ich konnte kaum stehen.
Mosehn
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