01 - Nicht ohne meine Tochter
der bisher steilste Berg gewesen war. »Türkei? Türkei?«, fragte ich den Mann, der meinen Arm hielt. »Iran, Iran.«, sagte er.
Wir stiegen wieder auf die Pferde und wandten uns dem Abstieg zu. Bald blieben wir in hohen Schneewehen stecken. Die Vorderbeine meines Pferdes knickten ein und meine Füße schleiften im Schnee. Die Männer zogen und zerrten, bis das mutige Tier wieder auf den Füßen stand und bereit war, seinen Weg fortzusetzen. Als wir uns dem Fuß des Berges näherten, kamen wir an einen Abgrund, ein klaffendes Loch, das sich tief in das Plateau eingegraben hatte, das diesen und den nächsten Berg voneinander trennte. Mein Führer drehte sich um und beugte sich so dicht zu meinem Gesicht, dass ich ihn sehen konnte. Er legte seinen Finger auf die Lippen. Ich hielt den Atem an. Die Männer warteten schweigend ein paar Minuten. In den Bergen waren wir vor Entdeckung geschützt, aber das schneebedeckte Plateau vor uns wurde vom trüben Licht des Himmels erhellt. Dort würden sich unsere Schatten gegen den glatten weißen Untergrund abzeichnen. Wieder ermahnte mich mein Führer, still zu sein. Endlich machte einer der Männer vorsichtig einige Schritte nach vorn. Ich konnte seine blassen grauen Umrisse sehen, als er auf das Plateau hinaustrat. Dann entschwand er. Einige Minuten darauf war er wieder da und flüsterte Mosehn etwas zu, der sich umdrehte und meinem Führer seinerseits etwas zuflüsterte. Dann sprach er mit kaum vernehmlicher Stimme mit mir. »Wir müssen euch einzeln hinüberbringen.«, erklärte er in Farsi. »Der Weg um die Schlucht ist zu schmal, zu gefährlich. Wir bringen zuerst Sie, dann das Kind.«
Mosehn gab mir keine Gelegenheit, zu widersprechen. Er ging voraus. Mein Führer zog an den Zügeln meines Pferdes und schritt schnell, aber ruhig in Mosehns Fußstapfen und brachte mich von Mahtab fort. Ich betete, sie möge meine Abwesenheit nicht bemerken. Wir traten hinaus auf das Plateau und versuchten, die riesige Spalte so schnell und so leise wir konnten zu überwinden. Bald stießen wir auf einen schmalen Pfad, der hart am Felsen vorbeiführte und gerade breit genug für ein Pferd war. Wir folgten dem vereisten Pfad, der sich scharf auf dem Berghang abzeichnete. Er führte in die Schlucht hinunter und den Hang auf der anderen Seite des Plateaus hinauf. Die Männer verstanden ihr Handwerk. In zehn Minuten waren wir drüben.
Mein Führer blieb bei mir, als Mosehn ging, um Mahtab zu holen. Ich saß schweigend auf dem Pferd, zitternd und ängstlich wartend. Meine Blicke versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Bitte, bitte, macht schnell! , weinte ich vor mich hin. Ich befürchtete, Mahtab könnte hysterisch werden. Dann war sie da, auf den Schoß eines der Männer gekuschelt. Sie zitterte unkontrollierbar, aber sie war wach und ruhig. Da fing mein Führer meinen Blick auf. Er deutete auf den Boden. »Türkei! Türkei!«, flüsterte er. »Al-hamdu lillah!«, sagte ich mit einem tiefen Seufzer. »Gott sei Dank!« Trotz der unglaublichen Kälte durchschauerte mich kurz eine wohlige Wärme. Wir waren in der Türkei! Wir waren aus dem Iran heraus! Aber wir waren noch lange nicht frei. Wenn türkische Grenzer uns fanden, könnten sie einfach das Feuer auf eine Bande von Eindringlingen eröffnen. Wenn wir das überlebten, dann würden die Türken uns ganz bestimmt festnehmen, und dann würden wir viele schwierige Fragen zu beantworten haben. Aber zumindest wusste ich - Amahl hatte mir das versichert -, dass die Türken uns nie wieder an den Iran ausliefern würden.
Ein eisiger Gedanke durchfuhr mich. Mit einem Schaudern wurde mir klar, dass ich zwanzig Minuten lang, während ich auf der einen Seite der Schlucht auf Mahtab gewartet hatte, schon in der Türkei gewesen war, während Mahtab noch im Iran war. Gott sei Dank wurde mir das erst bewusst, als die Gefahr schon vorüber war. Nun spürte ich auch wieder den kalten Wind. Wir waren noch immer im Gebirge, mitten im eisigen Sturm. Ein imaginärer Strich auf der Landkarte brachte keine echte Wärme, der wir jetzt so dringend bedurften. Welchen Preis würde ich für die Freiheit zu zahlen haben? Ich war überzeugt, dass einige meiner Zehen nicht mehr zu retten waren. Ich hoffte, dass es Mahtab besser ging als mir.
Wieder ritten wir einen unglaublich steilen Berg hinauf. Diesmal rutschte ich vom Pferd und fiel ungeschickt in den Schnee, ehe mein Führer mir helfen konnte. Er und Mosehn hoben mich auf die Füße und
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