01 - Nicht ohne meine Tochter
Fahrer, weiterzufahren. Eine Viertelstunde später erreichten wir ein Haus an der Landstraße, das nur wenig abseits lag. Es war ein rechteckiger weißer Flachdachbau aus Beton. Die Auffahrt führte hinter das Haus in einen Hof, in dem eine große, schmutzige Promenadenmischung laut bellte und dürftig bekleidete Kinder im Schnee herumrannten. Überall hingen zu verformten Skulpturen gefrorene Wäschestücke an Ästen, Pfählen und Fensterbalken. Frauen und Kinder kamen herbei, um uns zu betrachten. Die Frauen waren hässlich, hatten einen mürrischen Gesichtsausdruck und große Nasen. Ihre kurdische Tracht ließ sie so lang wie breit erscheinen, was dadurch betont wurde, dass sie noch weiter fallende Röcke trugen als ich. Sie beäugten uns, die Hände auf die Hüften gestützt, argwöhnisch. »Zud hasch!«, sagte der Mann, der uns abgeholt hatte. Er führte uns zur Straßenseite des Hauses zurück, von wo aus wir in eine Vorhalle traten. Mehrere Frauen zeigten uns, dass wir dort unsere Stiefel ausziehen sollten.
Angst und Erschöpfung forderten ihren Tribut bei mir. Alles wirkte unwirklich auf mich. Die Frauen und Kinder standen weiter Wache und begafften uns, während wir unsere eis- und matschverkrusteten Stiefel auszogen. Wir wurden in ein großes, kaltes, karges Zimmer gebracht. Eine Frau forderte uns wortlos auf, uns hinzusetzen. Wir saßen auf dem harten Lehmfußboden und starrten die Kurdinnen schweigend und argwöhnisch an, die uns ihrerseits in einer Manier, die auf uns nicht freundlich wirkte, anstierten. Die Eintönigkeit der schmutzigen gekalkten Wände des Zimmers wurde nur von zwei kleinen, mit Eisenstangen vergitterten Fenstern und einem Bild eines Mannes, eines Kurden mit hohen Backenknochen und einer russischen Fellmütze auf dem Kopf, aufgelockert. Eine der Frauen schürte das Feuer und brühte Tee auf. Eine andere bot uns ein paar Stücke hartes, kaltes Brot an. Eine dritte brachte Decken. Wir wickelten uns fest ein, konnten aber nicht aufhören, zu zittern. Was mögen diese Frauen denken?, fragte ich mich. Was sprechen sie untereinander in diesem unverständlichen Kurdisch? Wissen sie, dass wir Amerikanerinnen sind? Hassen die Kurden die Amerikaner auch? Oder sind wir Verbündete, gemeinsame Feinde der schiitischen Mehrheit?
Der »Mann, der wiedergekommen war« setzte sich zu uns, ohne etwas zu sagen. Ich hatte keine Möglichkeit zu erfahren, wie es weitergehen würde. Nach einer Weile trat eine Frau ein, die einen so ausladend gerüschten Rock trug, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Ein Junge von vielleicht zwölf Jahren war bei ihr. Die Frau marschierte auf uns zu, sagte etwas in scharfem Ton zu dem Jungen und bedeutete ihm, sich neben Mahtab zu setzen. Er tat wie geheißen und blickte mit einem schüchternen Kichern zu der Frau hoch. Die Frau, von der ich annahm, sie sei seine Mutter, stand wie ein Wachposten über uns. Mich überkam große Angst. Was ging hier vor? Die Szene war so befremdend, dass ich kurz davor war, in Panik auszubrechen. Eine Abtrünnige in diesem fremden Land, eine hilflose Geisel, auf Gedeih und Verderb diesen Menschen ausgeliefert, die in ihrem eigenen unheimlichen Land als Gesetzlose galten. Stumm schrie ich um Hilfe.
War dies die Wirklichkeit? Wie kam eine ansonsten durchschnittliche Amerikanerin in so eine unmögliche Lage? Ich wusste, wie. Es fiel mir wieder ein. Moody! Hämisch grinsend versteckte sich sein Gesicht in den flackernden Schatten an der Wand. Das Feuer in seinen Augen, als er mich und Mahtab schlug, glühte jetzt im Kerosinofen. Die kurdischen Stimmen um mich herum wurden lauter und verschmolzen mit Moodys bösen, gewalttätigen Schreien. Moody! Moody hatte mich gezwungen, davonzulaufen. Ich musste Mahtab mitnehmen. Oh mein Gott, dachte ich, wenn ihr etwas zustößt... Planen diese Menschen ein Komplott? Haben sie vor, mir Mahtab wegzunehmen? Wer waren dieser Junge und seine eindrucksvolle Mutter? Wollten sie Mahtab zu seiner kindlichen Braut machen? Die vergangenen anderthalb Jahre hatten mich überzeugt, dass ich in diesem seltsamen Land mit beinahe allem rechnen musste. Ich versuchte, mich zu beruhigen, indem ich mir einredete, dass meine Befürchtungen nur die düsteren Phantasien von Erschöpfung und Anspannung seien. »Mommy, ich mag nicht hier sein.«, flüsterte Mahtab. »Ich will fort.« Das machte mir noch mehr Angst. Auch Mahtab spürte also etwas. Von Zeit zu Zeit rührte sich der Junge von seinem Platz
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