01 - Winnetou I
in den Kopf!“
Es läßt sich denken, daß alle Anwesenden von der größten Spannung ergriffen worden waren. Sie hatten sich in zwei Reihen rechts und links von uns aufgestellt, so daß eine breite Straße entstanden war, deren Endpunkte wir beide markierten. Es herrschte tiefe Stille.
„Der Häuptling der Kiowas mag beginnen“, sagte Winnetou – – – „eins – zwei – drei!“
Ich stand still da und bot meinem Gegner meine ganze Körperbreite dar. Er legte gleich beim ersten Wort Winnetous das Gewehr an, zielte sorgfältig und drückte ab. Die Kugel ging nahe an mir vorüber. Kein Mensch ließ einen Ruf hören, der diesem Schuß gelten sollte.
„Nun mag Old Shatterhand schießen“, forderte mich Winnetou auf. „Eins – – – zwei – – –“
„Halt!“ unterbrach ich ihn. „Ich habe dem Häuptling der Kiowas grad und ehrlich gegenübergestanden; er aber dreht sich halb um und wendet mir nicht das Gesicht, sondern die Seite zu.“
„Das kann ich“, antwortete er. „Wer will es mir verbieten? Es ist nicht bestimmt worden, wie wir stehen sollen.“
„Das ist wahr, und Tangua kann sich also stellen, wie es ihm beliebt. Er kehrt mir seine schmale Seite zu, weil er meint, daß ich ihn da nicht so leicht treffen könne; aber er irrt sich, denn ich treffe unbedingt. Ich hätte schießen können, ohne ein Wort sagen zu brauchen; aber ich will ehrlich mit ihm sein. Er soll meine Kugel in das rechte Knie bekommen; das kann aber nur geschehen, wenn er mir das Gesicht zukehrt; wendet er mir aber die Seite zu, so wird ihm die Kugel beide Knie zerschmettern. Das ist der Unterschied. Er kann stehen, wie er will; ich habe ihn gewarnt.“
„Schieß nicht mit Worten, sondern mit Kugeln!“ höhnte er, indem er meine Warnung mißachtete und seitlich stehen blieb.
„Old Shatterhand schießt“, wiederholte Winnetou: – – – „eins – – – zwei – – – drei!“
Mein Schuß krachte; Tangua stieß einen lauten Schrei aus, ließ sein Gewehr fallen, warf die Arme auseinander, wankte einmal hin und her und stürzte dann nieder.
„Uff, uff, uff!“ rief es überall, und alle drängten sich zu ihm, um zu sehen, wo ich ihn getroffen hatte.
Ich ging auch hin, und man machte mir ehrerbietig Platz.
„In beide Knie, in beide Knie!“ hörte ich rechts und links sagen.
Als ich ihn erreichte, lag er wimmernd an der Erde. Winnetou kniete bei ihm und untersuchte die Verletzung. Er sah mich kommen und sagte:
„Die Kugel ist genauso gegangen, wie mein weißer Bruder vorher verkündet hat; es sind beide Knie zerschmettert. Tangua wird nie wieder ausreiten können, um sein Auge auf die Pferde anderer Stämme zu werfen.“
Als der Verwundete mich erblickte, warf er mir eine ganze Flut von Schimpfreden entgegen. Ich herrschte ihn so an, daß er für einige Augenblicke schwieg, und sagte:
„Ich habe dich gewarnt, und du hast nicht auf mich gehört; du bist selber schuld!“
Er wagte nicht zu jammern, weil ein Indianer dieses selbst bei den ärgsten Schmerzen nicht darf; er biß sich auf die Lippen, sah finster vor sich nieder und knirschte dann:
„Ich bin verwundet und kann nicht heimkehren. Ich muß bei den Apachen bleiben.“
Da schüttelte Winnetou den Kopf und antwortete in sehr bestimmtem Ton:
„Du wirst doch heimkehren müssen, denn wir haben keinen Raum für die Diebe unserer Pferde und die Mörder unserer Krieger. Wir haben uns nicht mit Blut gerächt und uns mit Tieren und Sachen begnügt; mehr kannst du nicht verlangen. Ein Kiowa gehört nicht in unser Pueblo.“
„Aber ich kann nicht heimreiten!“
„Old Shatterhand war noch schwerer verwundet als du und konnte auch nicht reiten; dennoch mußte er mit. Denke recht oft an ihn! Das wird dir nützlich sein! Die Kiowas wollten uns heut verlassen; sie mögen dies ja tun, denn denjenigen von ihnen, den wir morgen in der Nähe unserer Weideplätze treffen, den werden wir so behandeln, wie nach ihrem Wunsch Old Shatterhand behandelt werden sollte. Ich habe gesprochen. Howgh!“
Er nahm mich bei der Hand und führte mich fort. Als wir aus dem Gedränge der Menschen heraus waren, sahen wir seinen Vater mit den zwei Männern geschwommen kommen, die er ihm hinüber gesandt hatte. Er ging ihm bis an das Ufer entgegen, und ich suchte Sam Hawkens, Dick Stone und Will Parker auf.
„Endlich, endlich dürfen wir Euch einmal für uns haben!“ sagte der erstere. „Sagt doch gleich erst vor allen Dingen, was waren das für
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