01 - Winnetou I
los! Du hast es verdient, dies selbst tun zu dürfen.“
Ich tat es. Kaum waren sie frei, so warfen sie sich auf mich und nahmen mich in ihre sechs Arme, um mich auf eine Weise zu drücken und zu quetschen, daß es mir angst und bange werden wollte. Sam küßte mir sogar die Hand und beteuerte, indem Tränen aus seinen kleinen Äuglein in den Bartwald tropften:
„Sir, wenn ich Euch dies jemals vergesse, so soll mich der erste Bär, der mir begegnet, mit Haut und Haar verschlingen! Wie habt Ihr es nur angefangen? Ihr waret verschwunden. Ihr hattet solche Angst vor dem Wasser, und so dachten alle, daß Ihr ertrunken wäret.“
„Habe ich nicht gesagt: Wenn ich ertrinke, so sind wir gerettet?“
„Das hat Old Shatterhand gesagt?“ fragte Winnetou. „Also war das alles Verstellung?“
„Ja“, nickte ich.
„Mein Bruder wußte, was er wollte. Er ist hier hüben unter Wasser stromaufwärts geschwommen und dann drüben wieder herab, wie ich vermute. Mein Bruder ist nicht nur stark wie ein Bär, sondern auch listig wie der Fuchs der Prärie; wer sein Feind ist, der hat sich vor ihm sehr in acht zu nehmen.“
„Und so ein Feind ist Winnetou gewesen?“
„Ich war es, bin es aber nicht mehr.“
„So glaubst du nicht mehr Tangua, dem Lügner, sondern mir?“
Er sah mich wieder so lange und forschend an wie vorhin drüben am jenseitigen Ufer, reichte mir die Hand und antwortete:
„Deine Augen sind gute Augen, und in deinen Zügen wohnt keine Unehrlichkeit. Ich glaube dir.“
Ich hatte die vorhin abgelegten Kleidungsstücke wieder angezogen, nahm die Sardinenbüchse aus der Tasche des Jagdrockes und sagte:
„Da hat mein Bruder Winnetou das Richtige getroffen; ich werde es ihm beweisen. Vielleicht kennt er das, was ich ihm jetzt zeigen werde.“
Ich langte die zusammengerollte Haarlocke heraus, zog sie auseinander und hielt sie ihm hin. Er streckte die Hand danach aus, griff sie aber doch nicht an, sondern trat, ganz und gar überrascht, einen Schritt zurück und rief aus:
„Das ist Haar von meinem Kopf! Wer hat dir dies gegeben?“
„Intschu tschuna erzählte vorhin, daß ihr an die Bäume gebunden gewesen seid; da habe euch der große, gute Geist einen unsichtbaren Retter gesandt. Ja, unsichtbar war er, denn er durfte sich vor den Kiowas nicht sehen lassen; jetzt aber braucht er sich nicht mehr vor ihnen zu verbergen. Nun wirst du es wohl glauben, daß ich nicht dein Feind, sondern stets dein Freund gewesen bin.“
„Du – du – du also hast uns losgebunden! Dir also haben wir die Freiheit und wohl auch das Leben zu verdanken?“ stieß er, noch immer ganz betroffen, hervor, er, der sonst nie durch etwas zu erstaunen oder zu überraschen war. Dann nahm er mich bei der Hand und zog mich fort, hin nach der Stelle, an welcher, uns mit jedem ihrer Blicke beobachtend, seine Schwester stand. Er stellte mich vor sie hin und sagte:
„Nscho-tschi sieht hier den tapfern Krieger, welcher mich und den Vater heimlich befreit hat, als uns die Kiowas an die Bäume gebunden hatten; sie mag sich bei ihm bedanken!“
Nach diesen Worten drückte er mich an sich und gab mir auf jede Wange einen Kuß. Sie reichte mir die Hand und sagte das eine Wort:
„Verzeih!“
Sie sollte sich bedanken und bat mich statt dessen um Verzeihung! Warum? Ich verstand sie recht gut. Sie hatte mir im stillen Unrecht getan. Sie als meine Pflegerin mußte mich besser kennen als die andern, und doch hatte sie, als ich mich aus List verstellte, auch geglaubt, daß es Wahrheit sei. Sie hatte mich für eine feige, ungeschickte Memme gehalten, und dies gutzumachen, das war ihr wichtiger als der Dank, den Winnetou von ihr verlangte. Ich drückte ihr die Hand und antwortete:
„Nscho-tschi wird sich alles dessen erinnern, was ich ihr gesagt habe. Nun ist es eingetroffen. Will meine Schwester jetzt an mich glauben?“
„Ich glaube an meinen weißen Bruder!“
Tangua stand in der Nähe. Es war ihm anzusehen, wie wütend er war. Ich trat zu ihm hin und fragte, indem ich ihm fest in das Gesicht blickte:
„Ist Tangua, der Häuptling der Kiowas, ein Lügner, oder liebt er die Wahrheit?“
„Willst du mich beleidigen?“ fuhr er auf.
„Nein; ich will nur wissen, woran ich mit dir bin. Also antworte!“
„Old Shatterhand mag wissen, daß ich die Wahrheit liebe.“
„Wollen sehen! Dann hältst du wohl auch Wort, wenn du etwas versprochen hast?“
„Ja.“
„Das muß auch sein, denn wer nicht tut, was er sagt, den muß man
Weitere Kostenlose Bücher