01 - Winnetou I
leichte Weise die Aufmerksamkeit des Wächters wieder abzulenken, so daß ich auch die Hände des Häuptlings von dem Riemen befreien konnte. Er war grad so bedächtig wie sein Sohn und rührte sich nicht.
Da kam mir der Gedanke, daß es besser sei, die zu Boden gefallenen Riemen nicht finden zu lassen. Die Kiowas brauchten gar nicht zu wissen, auf welche Weise die Gefangenen frei geworden waren. Fanden sie hingegen die Riemen, so sahen sie, daß dieselben durchgeschnitten worden waren, und dann mußte sich ihr Verdacht auf uns richten. Ich nahm also erst hüben bei Intschu tschuna die Riemen weg und huschte dann wieder hinüber zu Winnetou, um dort dasselbe zu tun, steckte sie ein und machte mich dann auf den Rückweg.
Wenn die beiden Häuptlinge verschwanden, so machte der Wächter augenblicklich Alarm, und dann durfte ich mich nicht mehr in der Nähe befinden. Ich mußte mich beeilen. Darum kroch ich zunächst tiefer in das Gebüsch hinein, bis ich, falls ich mich aufrichtete, nicht gesehen werden konnte, stand dann auf und schlich mich nun, zwar auch vorsichtig, aber bedeutend schneller als vorher, nach unserm Lagerplatz zurück. Erst als ich in der Nähe desselben angekommen war, legte ich mich wieder nieder, um den kleinen Rest des Weges kriechend zu machen.
Meine drei Gefährten hatten große Sorge um mich gehabt. Als ich bei ihnen angekommen war und wieder zwischen ihnen lag, flüsterte mir Sam zu:
„Wir hatten beinahe Angst, Sir! Wißt Ihr, wie lange Ihr fort gewesen seid?“
„Nun?“
„Beinahe zwei Stunden.“
„Das stimmt. Eine halbe Stunde hin, eine halbe her und eine ganze dort geblieben.“
„Warum mußtest Ihr so lange dort bleiben?“
„Um ganz genau zu erfahren, ob der Häuptling schläft.“
„Wie habt Ihr das denn angefangen?“
„Ich habe so lange nach ihm hingeschaut, und als er sich dann immer noch nicht bewegte, so konnte ich überzeugt sein, daß er schläft.“
„So, ach, schön! Habt ihr's gehört, Dick und Will? Um zu erfahren, ob der Häuptling munter ist oder schläft, hat er ihn eine ganze Stunde lang angestarrt, hihihihi! Er ist und bleibt ein Greenhorn, ein unverbesserliches Greenhorn! Habt Ihr denn gar kein Hirn im Kopf, daß Euch kein besseres Mittel eingefallen ist? Ihr habt doch jedenfalls unterwegs genug kleine Holz- oder Rindenstücke gefunden? Nicht?“
„Ja“, antwortete ich, da die letzten Worte wieder an mich gerichtet waren.
„So brauchtet Ihr nur, wenn Ihr nahe genug gekommen wart, so ein kleines bißchen Erde nach dem Häuptling zu werfen. Wäre er wach gewesen, so hätte er sich sicher augenblicklich bewegt. Na, Ihr habt freilich auch geworfen, wenn ich mich nicht irre, nämlich Blick auf Blick, eine ganze Stunde lang, hihihihi!“
„Mag sein; aber meine Probe habe ich doch bestanden!“
Während ich sprach, richtete ich meine Augen mit Spannung auf die beiden Apachen. Ich wunderte mich, daß sie noch immer so an den Bäumen standen, als ob sie gefesselt wären. Sie konnten schon fort sein. Der Grund war ein sehr einfacher. Winnetou hatte angenommen, daß ich ihn zuerst abgeschnitten hätte und dann zu seinem Vater geschlichen sei, und erwartete nun ein Zeichen von mir. Dasselbe war auch mit seinem Vater der Fall, nur umgekehrt. Intschu tschuna glaubte, ich hätte noch mit Winnetou zu tun. Als dann gar kein Zeichen meinerseits erfolgte, wartete Winnetou einen Augenblick ab, an welchem der Wächter die müden Augen wieder einmal geschlossen hatte, und bewegte dann den Arm, um seinem Vater zu zeigen, daß er nicht mehr gefesselt sei; der Häuptling gab ihm dasselbe Zeichen zurück; sie wußten nun, woran sie waren, und verschwanden augenblicklich von ihren Plätzen.
„Ja, Eure Probe habt Ihr bestanden“, gab Sam Hawkens zu. „Ihr habt den Häuptling eine ganze Stunde lang beobachtet, ohne daß Ihr dabei erwischt worden seid.“
„Folglich werdet Ihr mir nun zutrauen, daß ich auch mit zu Winnetou kann, ohne daß ich Dummheiten mache.“
„Hm! Glaubt Ihr, daß Ihr die beiden Häuptlinge dadurch befreien könnt, daß Ihr sie auch eine volle geschlagene Stunde mit Euren Blicken bombardiert?“
„Nein. Wir schneiden sie los.“
„Das sagt Ihr, als ob es so leicht wäre, wie man einen Ast vom Busch schneidet. Seht Ihr nicht, daß ein Wächter bei ihnen steht?“
„Das sehe ich sehr wohl.“
„Der macht es grad so wie Ihr; er kanoniert sie auch mit seinen Blicken. Sie trotz dieser Wachsamkeit loszumachen, dazu seid Ihr noch nicht
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