01 - Winnetou I
Häuptlinge nur ihre eigenen Pferde mitgenommen, aber diejenigen der Gefangenen dagelassen?“
„Eben um dieser Gefangenen willen.“
„Ah! Wieso?“
„Weil diese ihre Pferde noch sehr notwendig brauchen werden.“
„Meint Ihr? Inwiefern können denn Gefangene Pferde brauchen?“
Ich fühlte mich durch seine Fragen nicht etwa in meinem Ehrgefühl verletzt; es war nun einmal so seine Weise. Darum antwortete ich:
„Es kann zweierlei geschehen. Entweder kehren die beiden Häuptlinge bald mit einer genügenden Apachenschar zurück, um die Gefangenen zu befreien. Warum sollen sie da die Pferde erst mitnehmen und dann wieder mitbringen? Oder die Kiowas warten die Ankunft der Apachen nicht ab und verlassen mit ihren Gefangenen diese Gegend. Dann ist den letzteren ihre Lage dadurch erleichtert, daß sie reiten können. Ihr Transport verursacht da weniger Schwierigkeiten, und es ist zu hoffen, daß sie nach den Dörfern der Kiowas geschafft werden und unterwegs befreit werden können. Hätten sie aber keine Pferde, so daß sie laufen müßten, so könnten die Kiowas leicht auf den Gedanken kommen, den schwierigen und langweiligen Transport dadurch zu umgehen, daß sie sie hier und jetzt gleich umbringen.“
„Hm! Das ist wirklich gar nicht so dumm gedacht, wie man aus Eurem Gesicht schließen könnte. Aber Ihr habt einen dritten Fall vergessen. Es ist nämlich möglich, daß die Kiowas ihre Gefangenen trotz der Pferde töten.“
„Nein; das ist nicht möglich.“
„Nicht? Sir, wie kommt Ihr denn auf die Idee, etwas für unmöglich zu erklären, was Sam Hawkens für leicht möglich hält?“
„Weil dieser Sam Hawkens vergessen zu haben scheint, daß ich hier bin.“
„Ah, Ihr seid hier? Ist das wahr? Ihr haltet Eure hochverehrte Gegenwart wohl für ein ganz außerordentliches oder gar welterschütterndes Ereignis?“
„Nein. Ich wollte nur sagen, daß die Gefangenen, solange ich da bin und ein Glied für sie rühren kann, nicht ermordet werden.“
„Wirklich? Was Ihr doch für ein hochbedeutender Kerl seid, hihihihi! Die Kiowas sind zweihundert Mann stark, und Ihr, der einzelne Mensch, das Greenhorn, will sie hindern, zu tun, was ihnen beliebt!“
„Ich werde hoffentlich nicht einzeln dastehen.“
„Nicht? Auf wen rechnet Ihr denn noch?“
„Auf Euch, Sam, und auch auf Dick Stone und Will Parker. Ich hege das feste Vertrauen zu Euch, daß Ihr Euch so einem Massenmord ernstlich widersetzen würdet.“
„So! Also Vertrauen habt Ihr doch zu uns! Bin Euch sehr dankbar dafür, denn es ist wirklich kein Spaß, das Vertrauen eines solchen Mannes, wie Ihr seid, zu besitzen. Ich bilde mir natürlich außerordentlich viel darauf ein, wenn ich mich nicht irre!“
„Hört, Sam, ich spreche im Ernst und habe gar nicht die Absicht, diese Angelegenheit in das Scherzhafte zu ziehen. Wenn es sich um so viele Menschenleben handelt, da hat der Spaß einfach aufzuhören!“
Da blitzte er mich aus seinen kleinen Äuglein ironisch listig an und sagte:
„Thounder-storm! Es ist Euch also wirklich Ernst? Ja, dann muß ich freilich ein ganz anderes Gesicht dazu machen. Aber wie denkt Ihr Euch denn eigentlich die Sache, Sir? Auf die andern können wir nicht rechnen; wir sind also nur vier Personen, welche unter Umständen mit zweihundert Kiowas anbinden wollen. Meint Ihr denn, daß dies ein gutes Ende für uns nehmen könnte?“
„Nach dem Ende frage ich nicht. Ich dulde nicht, daß in meiner Gegenwart ein solcher Mord geschieht.“
„Dann wird er trotzdem geschehen, doch mit dem Unterschied, daß Ihr auch mit ausgelöscht werdet. Oder wollt Ihr Euch auf Euern neuen Namen Old Shatterhand verlassen? Meint Ihr, daß Ihr zweihundert rote Krieger mit Euern Fäusten niederschlagen könnt?“
„Unsinn! Ich habe mir diesen Namen nicht gegeben und weiß genau, daß wir vier nicht gegen die zweihundert aufkommen könnten. Aber ist denn die Anwendung von Gewalt durchaus notwendig? List ist da oft besser.“
„So? Das habt Ihr wohl gelesen?“
„Ja.“
„Richtig! Ihr seid dadurch aber auch ein furchtbar gescheiter Kerl geworden. Ich möchte Euch wirklich gern einmal listig sehen. Was würdet Ihr denn ungefähr für ein Gesicht dabei machen? Ich sage Euch, daß hier mit aller Eurer List nichts zu erreichen ist. Die Roten werden machen, was sie wollen, und sich gar nicht darum kümmern, ob wir drohende oder listige Mienen dazu schneiden.“
„Gut! Ich sehe, daß ich mich nicht auf Euch verlassen kann, und werde
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