01 - Winnetou I
Fuß dieser Bäume einiges belaubtes Gezweig gestanden hätte, welches mir hinlänglich erschien, mich dem Wächter zu verbergen. Zu erwähnen ist, daß mehrere Schritte seitwärts hinter diesem ein stacheliger Strauch stand, auf welchen ich es mit abgesehen hatte.
Ich schob mich zuerst bis hinter Winnetou hinan und blieb da einige Minuten still liegen, um den Wächter zu beobachten. Er schien müde zu sein, denn er hielt die Augen geschlossen und öffnete sie dann und wann in einer Weise, als ob ihm dies Anstrengung koste. Das war mir lieb.
Zunächst galt es zu erfahren, in welcher Weise Winnetou gefesselt war. Ich langte also vorsichtig um den Stamm hinum und betastete seinen Fuß und Unterschenkel. Das mußte er natürlich fühlen, und ich hatte befürchtet, daß er eine Bewegung machen werde, durch welche ich verraten werden könnte; dies geschah aber nicht; er war zu klug und zu geistesgegenwärtig dazu. Ich fand, daß ihm die Füße an den Knöcheln zusammengebunden waren, und außerdem hatte man um sie und den Baum einen Riemen gezogen; es waren hier also zwei Messerschnitte notwendig.
Dann blickte ich nach oben. Beim flackernden Feuerschein sah ich, daß man seine Hände rückwärts von rechts und links um den Baum gezogen und dort hinter demselben mit einem Riemen zusammengebunden hatte. Da brauchte ich nur einen Schnitt zu tun.
Jetzt nun fiel mir ein Umstand ein, an den ich vorher nicht gedacht hatte. Wenn ich Winnetou losschnitt, so stand nach meinem Dafürhalten zu erwarten, daß er augenblicklich die Flucht ergreifen werde. Das mußte mich in die größte Gefahr bringen. Ich sann hin und her, wie dies vermieden werden könne, fand aber keinen Ausweg; ich mußte es eben riskieren und, falls der Apache sofort entsprang, mich ebenso schnell salvieren.
Wie irrte ich mich da in Winnetou! Ich kannte ihn eben nicht. Als wir später über seine Befreiung sprachen, teilte er mir seine Gedanken mit, die er dabei gehabt hatte. Er hatte, als er meine tastende Hand fühlte, geglaubt, es sei ein Apache. Zwar waren alle, welche er bei sich hatte, gefangen; aber es war doch möglich, daß irgendein Späher oder Bote ihnen, ohne daß sie davon wußten, gefolgt war, um ihnen von ihrem Haupttrupp eine Nachricht zu bringen. Er war sofort seiner Befreiung sicher gewesen und hatte auf die erlösenden Messerschnitte gewartet. Aber er hätte seine Stellung am Baum ganz gewiß nicht gleich verändert, sondern sie einstweilen noch beibehalten, denn er wäre auf keinen Fall ohne seinen Vater entflohen und wollte auch den, welcher ihn befreite, nicht durch ein augenblickliches Entspringen in Gefahr bringen.
Ich durchschnitt zunächst die beiden unteren Riemen, den oberen konnte ich in meiner liegenden Stellung nicht erreichen. Und selbst wenn ich ihn hätte erlangen können, so war doch Behutsamkeit geboten, um Winnetou nicht in die Hände zu schneiden. Ich mußte also aufstehen. Da aber war es beinahe sicher, daß mich der Wächter sehen mußte. Um seine Aufmerksamkeit abzulenken, hatte ich den Sand mitgebracht; kleine Steine wären mir freilich lieber gewesen. Ich griff in die Tasche, nahm eine Wenigkeit davon heraus und warf sie an Winnetou und dem Wächter vorbei auf den Stachelstrauch. Das verursachte ein Rascheln. Der Rote wendete sich um und sah nach dem Strauch, beruhigte sich aber bald wieder. Ein zweiter Wurf erregte sein Bedenken. Es konnte ein giftiges Reptil im Strauch verborgen sein. Er stand auf, ging hin und betrachtete ihn forschend. Dabei kehrte er uns den Rücken zu. Schnell war ich auf und durchschnitt den Riemen. Dabei fiel mir das herrliche Haar Winnetous in die Augen, welches auf dem Kopf einen helmartigen Schopf bildete und dann noch schwer und lang auf den Rücken niederfiel. Mit der linken Hand eine dünne Strähne desselben fassend, schnitt ich sie mit der Rechten ab und ließ mich dann wieder zu Boden sinken.
Warum ich das tat? Um nötigenfalls einen Beweis in den Händen zu haben, daß ich es war, der ihn losgeschnitten hatte.
Zu meiner Freude machte Winnetou nicht die geringste Bewegung; er stand genauso wie vorher da. Ich wickelte das Haar um die Finger zu einem Ring zusammen und steckte es ein. Dann kroch ich zu Intschu tschuna hinüber, dessen Fesseln ich auf ganz dieselbe Weise untersuchte. Er war genauso gebunden und an dem Baum befestigt wie Winnetou und blieb auch so unbeweglich, als er die Berührung meiner Hand fühlte. Ich schnitt auch ihn erst unten los. Dann gelang es mir, auf ganz
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