010 - Die Bestie mit den Bluthänden
öffnete die Tür. Vor ihm stand die schmale, ein wenig salopp
gekleidete Gestalt des Psychologen. Sandos war nur mit einer hellgrauen,
leinenen Sommerhose und einem dezent gemusterten, hellen Sporthemd bekleidet.
»Es ist etwas später als sonst geworden«, entschuldigte sich der Psychologe
gleich nach der Begrüßung, während er die Türschwelle überschritt. »Ich hatte
länger im Labor zu tun als erwartet. Ich konnte das Experiment nicht
abbrechen.«
Die Blicke der beiden Männer begegneten sich kurz.
Henri Blandeau nickte. »Das macht nichts. Es kommt auf eine oder zwei
Stunden nicht an. Sie können selbst morgens um drei Uhr noch zu mir kommen, das
wissen Sie, Doktor. Nach den Schriften, die ich übersetzt und studiert habe,
sind die Stunden nach Mitternacht maßgebend. Ich bin ein Nachtmensch und
arbeite meist bis in die frühen Morgenstunden. Und dann, wenn ich – oft bei
Sonnenaufgang – zu Bett gehe, benötige ich nur drei, vier Stunden Schlaf, so
dass ich den neuen Tag morgens gegen zehn Uhr schon wieder beginne.« Er wollte
weitersprechen, als sein Blick auf die linke Hand des Psychologen fiel. Mehrere
frische blutige Kratzer zogen sich über den Handrücken.
Henri Blandeau kniff die Augen unwillkürlich zusammen. »Sie haben sich
verletzt?«
Dr. Sandos warf einen flüchtigen Blick auf die Kratzwunden und nickte.
»Wenn man Versuche anstellt, geht man immer ein Risiko ein. Ich habe heute zum
ersten Mal einem Affen die Droge gegeben. Die Reaktion erfolgte für mich
unerwartet heftig und sehr schnell. Er kratzte mir die Hand auf. Es hätte
schlimmer kommen können.«
Die beiden Männer passierten den schwacherleuchteten Flur. Die gewaltige
goldene Maske reflektierte das Licht der kleinen Deckenleuchte. Die
unheimlichen Fratzen an den Wänden warfen bizarre, verzerrte Schatten.
Dr. Sandos leckte sich über die Lippen. Das stille, geheimnisvolle Haus des
Privatgelehrten strahlte eine eigenartig bedrückende Stimmung aus. Er hatte
geglaubt, sich inzwischen daran gewöhnt zu haben. Immerhin war dies sein
siebenter nächtlicher Besuch! Er kannte dieses Haus nur bei Nacht, aber er war
überzeugt davon, dass der Eindruck auch bei Tag nicht anders gewesen wäre. Die
kleinen Fenster ließen kaum das Tageslicht ein, und das wenige, das hereinfiel,
wurde von den dunklen Holztäfelungen der Wände und der Decken verschluckt.
Die Dielen knarrten unter ihren Schritten. Irgendwo über ihnen knackte es
im Gebälk. Ganz in der Nähe schrie ein Kauz, der auf das Licht in dem einsam
stehenden Haus aufmerksam geworden zu sein schien.
Hinter dem Treppenaufgang befand sich die dunkle Tür zum Keller. Blandeau
hatte auch einige Kellerräume ausgebaut. Seine Sammlung war so umfangreich,
dass die Räumlichkeiten kaum ausreichten. Andererseits aber verlangten es die
kostbaren und ungewöhnlichen Kunstschätze, dass man sie großzügig anordnete und
aufstellte, um sie wirklich zur Geltung zu bringen. Die Kellertür wurde zu
beiden Seiten von zwei steinernen Fabelwesen flankiert. Das Gestein war
grau-grün und spröde, rissig und porös. Vor den Stufen, die in die Tiefe des
Kellers führten, breitete sich eine Art Terrasse aus, eine quadratische Fläche
aus hellgrauem Beton. Mitten im Weg stand eine etwa mannsgroße Skulptur. Es war
eine Figur, die Blandeau als Chacmool bezeichnete.
In Form eines brückenschlagenden Akrobaten stand sie mitten auf der glatten
Betonfläche und trug eine breite Schüssel mitten auf dem nach oben gereckten
Bauch. In dieses Gefäß waren bei aztekischen Götterorgien die blutigen,
dampfenden Herzen von Menschen geworfen worden. Noch heute waren die
Innenseiten des Gefäßes dunkel von dem Blut, das in Unmengen in diesen
steinernen Körper geflossen war.
Schräg über Chacmool war in einem
schmiedeeisernen Halter eine Fackel befestigt. Ihr lautloses Licht flackerte
unruhig, als die beiden Männer um die Gestalt herumgingen. Sandos fand diese
Szenerie immer gleich vor. Mit Einbruch der Dunkelheit, das hatte Blandeau ihm
selbst bestätigt, zündete er die Fackeln an, die es in manchen besonders
hergerichteten Räumen des alten, düsteren Hauses gab. Henri Blandeau lebte hier
in einer eigenen, rätselhaften Welt. Er schien sich in die Lebensart einer
alten, ausgerotteten und ausgestorbenen Rasse hineinfühlen zu wollen. Sandos
jedenfalls hatte das Gefühl, die Gegenwart zu verlassen, sobald sich die Tür
des Hauses hinter ihm schloss.
Zwei Meter nach der brückenschlagenden Göttergestalt begann
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