010 - Die Bestie mit den Bluthänden
geheimnisvoll.
Einschließlich Henri Blandeau. Es war, als ob er die Menschen fürchte, um nicht
zu sagen: als ob er sie hasse … Er lebte wie ein Einsiedler, empfing keine
Besuche. Zweimal in der Woche fuhr der kleine Lieferwagen eines Händlers aus
Rostrenen vor, der Henri Blandeau mit den notwendigen Lebensmitteln versorgte.
Dieser Mann war der einzige, der während der vergangenen Jahre mit ihm Kontakt
hatte. Er hätte erzählen können, wie Blandeau aussah, wie er sprach, wie er
sich bewegte. Doch niemand mehr schien sich für dessen Schicksal zu
interessieren. Die Reden des Privatgelehrten, seine zündenden Essays und
wissenschaftlichen Berichte, die oft in Fachkreisen Furore gemacht hatten,
schienen vergessen.
Henri Blandeau war ein schlanker, grauhaariger Mann mit einer
ledergegerbten Haut. Seine Augen hatten die Farbe eines geschliffenen Saphirs.
Sie blickten klar und jugendlich.
Oftmals wirkte sein Gesicht so, als könne es keine Regung zeigen. Es war
wie aus Stein gemeißelt. Nicht einmal die Tatsache, dass um diese Zeit, mehr
als eine Stunde nach Mitternacht, jemand vor der Tür stand und Einlass
begehrte, schien ihn zu überraschen.
Oder erwartete er den späten Besucher, der um diese ungewöhnliche Zeit
angeklopft hatte?
Eine Klingel gab es an der alten, massiven Holztür, die mit eisernen
Beschlägen versehen war, nicht. Ein schwerer Klöppel hing an einem aus Eisen
bestehenden Menschenkopf, der mitten in die Tür eingelassen war.
Henri Blandeau passierte den breiten Korridor. An den Wänden hingen
furchterregende Masken und Waffen aus Obsidian, ein farbenprächtiger
aztekischer Federschmuck und eine riesige Maske aus purem Gold. Allein diese
war ein Vermögen wert. Henri Blandeau hatte einen Teil der unschätzbaren
Kunstgegenstände und Waffenausrüstungen in einem von Urwaldpflanzen
überwucherten Ruinendorf gefunden. Kaum jemand wusste, was er während seines
langjährigen Aufenthaltes im Hochland von Mexiko alles gefunden und
zusammengetragen hatte. Fachwissenschaftler und die Bevölkerung rätselten lange
Zeit darüber, doch der eigensinnige Franzose schwieg wie ein Grab. Durch
geheime Kanäle waren die Schätze nach Frankreich gelangt und nahmen ihren
endgültigen Platz nun in diesem abgelegenen, düsteren Haus in der Nähe eines
ausgedehnten Waldes ein.
Eine Zeitlang bemühten sich Forscher und Journalisten, die Spur des
Privatgelehrten wieder aufzunehmen. Vergebens! Es war Blandeau gelungen, alle
Brücken hinter sich abzubrechen. Hier in der Bretagne, in der Nähe eines
armseligen Dörfchens, das selbst die Touristen links liegen ließen, hatte er
Zeit und Muße gefunden, den Geheimnissen auf den Grund zu gehen, die ihm die
Geschichte der ausgerotteten Völker der Mayas, Inkas, Azteken und Tolteken zur
Genüge aufgaben.
Henri Blandeau erreichte die Haustür. Er schob eine winzige Klappe zurück,
die in Augenhöhe angebracht war. Hinter der rechteckigen Öffnung erblickte er
den Kopf eines Mannes.
Dr. Sandos.
In Blandeaus Gesicht regte sich kein Muskel, als er das Guckloch wieder
verschloss und mit einer fast behutsamen Bewegung den Schlüssel im Schloss
herumdrehte.
Seine Tür hatte sich in den vergangenen Nächten sehr oft geöffnet, mehr als
in den letzten zwanzig Jahren zusammengenommen.
Während eines abendlichen Spazierganges durch die ausgedehnten Wälder war
es vor knapp vier Wochen zu einem ersten Zusammentreffen mit Dr. Sandos
gekommen. Sandos war Südamerikaner, ein Psychologe, der sich vor drei Jahren am
Rande des abgelegenen Ortes in der Nähe von Rostrenen niedergelassen hatte. Der
Mediziner hatte seine Stammkundschaft, besonders unter überarbeiteten
Politikern, überspannten Filmbossen und Filmstars. Sie kamen aus der ganzen
Welt zu ihm.
Die beiden Männer hatten nichts voneinander gewusst, obwohl ihre
Grundstücke nur knapp achthundert Meter voneinander entfernt lagen. Sandos war
praktisch der unmittelbare Nachbar von Henri Blandeau. Nur ein schmaler
Streifen Wald und eine sumpfige Wiese trennten die beiden Anwesen.
Dem kleinen Bauernhaus, das Sandos gekauft hatte, war im Lauf der Jahre ein
moderner, flacher Bau angegliedert worden. Die geräumigen, sonnenüberstrahlten
Terrassen mit Blick auf die nahe Waldzone waren speziell für die gut zahlenden
Privatpatienten errichtet worden.
Hier, in dieser weltabgeschiedenen Gegend, fanden sie Ruhe und Erholung,
und in Dr. Sandos einen Psychologen, dessen hervorragende Leistungen für sich
sprachen.
Henri Blandeau
Weitere Kostenlose Bücher