010 - Die weiße Hexe
die Ruine. Es war jetzt schon so dunkel, daß der Boden zu einem konturlosen Schwarz verschwamm.
»Soll ich die Handlampe…?«
Ian Ekenberry schüttelte den Kopf. »Ach was, Bruce. Wir werden schon nicht auf die Nase fallen.«
Sie gingen weiter. Das Schluchzen wurde mit jedem Schritt, den sie machten, lauter, deutlicher. Es kam aus einer Mauernische, in der es so finster war, daß die Freunde darin niemand erkennen konnten. Wenn jemand weint, dann leidet er. Und Ekenberry und Perkins konnten nicht ertragen, wenn jemand litt.
Sie hofften, helfen zu können.
Ekenberry wischte sich die feuchten Handflächen an der Hose ab.
Je näher sie der Nische kamen, desto zögernder wurden ihre Schritte.
Drei Meter lagen nur noch zwischen ihnen und dem Schluchzen.
Sie vermeinten, in der Dunkelheit eine Gestalt zu sehen.
Ekenberry blieb stehen.
Auch Perkins ging nicht weiter.
»Hallo!« sagte Ian Ekenberry heiser. Er war sehr aufgeregt.
Bewegung in der Dunkelheit. Aus dem Schwarz löste sich ein Mädchen. Ihr Kleid war an vielen Stellen zerrissen, die Haut aufgeschrammt. Ekenberry und Perkins sahen Blut.
Das Mädchen machte zwei unsichere, erschöpfte Schritte vorwärts. Dann kippte sie den verstörten Männern entgegen.
***
Ekenberry und Perkins überwanden die Schrecksekunde und fingen das verletzte Mädchen auf. »Großer Gott!« stöhnte Ekenberry. »Was mag ihr wohl zugestoßen sein?«
»Jemand scheint sie mißhandelt zu haben«, entgegnete Bruce Perkins.
»Los, wir tragen sie zum Wagen, und dann suchen wir dieses Schwein!«
Das Mädchen regte sich nicht mehr, war ohnmächtig geworden.
Ekenberry befürchtete, sie könnte auch innere Verletzungen haben.
Er sagte das seinem Freund, und sie trugen sie sehr vorsichtig aus der Ruine. Bruce Perkins legte die Lehne des Beifahrersitzes um. Sie betteten das Mädchen darauf. Ekenberry strich mit der Hand behutsam das rote Haar aus dem ebenfalls zerschrammten Gesicht.
»Sie ist sehr hübsch«, sagte er leise, als würde das Mädchen schlafen und er wollte sie nicht aufwecken.
»Ja. Bildhübsch«, sagte Perkins. »Komm, wir kaufen uns den Kerl, der sie so zugerichtet hat.«
»Womit bewaffnen wir uns?«
»Unsere Fäuste genügen!« behauptete Perkins grimmig. »Der Bursche kriegt so viel Saueres, wie nie zuvor in seinem Leben. Den machen wir fertig. Dem bringen wir Manieren bei. Er wird sich an keinem Mädchen mehr vergreifen, das schwöre ich dir.«
Die Verletzte seufzte tief.
»Sie scheint das Bewußtsein wiederzuerlangen!« stellte Ekenberry aufgeregt fest.
Das Mädchen riß plötzlich die Augen auf. Grüne Augen. Verstört und entsetzt starrte sie Ekenberry und Perkins an. Schluchzend hob sie die Arme zur Abwehr.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte Ekenberry sanft.
»Wir tun Ihnen nichts.«
»Wir wollen Sie beschützen«, sagte Perkins.
»Sie haben nichts mehr zu befürchten«, bemerkte Ian Ekenberry.
»Was ist geschehen?«
Das schöne Mädchen starrte ihn an, ohne zu antworten. Ihr Geist schien verwirrt zu sein.
»Haben Sie Schmerzen?« fragte Perkins.
»Ja«, hauchte das Mädchen.
»Wurden Sie überfallen?«
»Ja.«
»Von wem?«
Sie blickte furchtsam an Perkins vorbei. »Bringen Sie mich fort von hier!« bettelte sie aufgeregt. »Schnell! Bitte!«
»Wer hat Sie so zugerichtet?«
»B-i-t-t-e-!« keuchte das rothaarige Mädchen.
»Wie heißen Sie?«
»Oda. Bringen… Sie mich … zu R-o-x-a-n-e …« Ihre Stimme wurde zu einem kaum wahrnehmbaren Flüstern. Sie schloß die Augen und verlor erneut das Bewußtsein.
Bruce Perkins sah seinen Freund ratlos an. »Was tun wir nun?«
Ekenberry rümpfte die Nase. »Wir können uns den Kerl, der das Mädchen so zugerichtet hat, nicht kaufen, Bruce. Oda braucht dringend einen Arzt. Wir wissen nicht, wie schwer sie verletzt ist.«
»Sie möchte, daß wir sie zu Roxane bringen.«
Ekenberry schüttelte den Kopf. »Ich kenne niemanden, der so heißt. Du?«
»Nein, ich auch nicht.«
Aus Death Stone wurde ihnen in diesem Augenblick ein knirschendes Geräusch vom Wind ans Ohr getragen. Sie vermuteten, daß der Mann, der das Mädchen so brutal mißhandelt hatte, gleich die Szene betreten würde. Vielleicht betrachtete er die Kleine als sein Eigentum und wollte sie sich zurückholen. Er sollte sie nicht wiederkriegen, dafür wollten Ekenberry und Perkins sorgen. Kalt und hart wurden ihre Gesichter, und sie ballten die Hände zu Fäusten. Grimmig blickten sie dorthin, woher das Geräusch gekommen
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