0104 - Portaguerra
anziehen.« Jane schenkte ihm ein so süßes Lächeln, daß es nicht mehr echt wirkte. »Ihretwegen vollführe ich hier keinen Striptease.«
Das saß. Der Junge klappte den Mund zu, kassierte und kümmerte sich nicht mehr um meine Begleiterin.
»Hast du die Blitze gesehen?« erkundigte sich Shaun Loughelin.
So weit ich das beurteilen konnte, sprach er Französisch mit einem schauderhaften Akzent. Es hörte sich fast wie seine irische Muttersprache an.
»Blitze?« Der junge Mann zog die schwarzen Augenbrauen hoch.
»Nein, wieso… ach, das wird Raoul sein. Er ist vor einer Stunde hinaufgefahren.«
»Raoul?« fragte ich, weil mich alles interessierte, was mit der Todeswand zusammenhing.
»Raoul Gasconne, der Lokalreporter.« Der Liftwart beugte sich aus dem Fenster des Kontrollraumes. »Steigen Sie schon ein. Shaun kennt sich mit den Kabinen aus!«
Er telefonierte mit der Bergstation, während wir uns in die Kabine drängten. Sie war wirklich nicht groß, aber wir brauchten wenigstens nicht lange zu warten. Kaum schlugen wir die Tür zu, als wir auch schon losfuhren.
»Gasconne muß verrückt geworden sein«, verkündete Shaun kopfschüttelnd. »Die Blitze waren ungefähr bei der ›Nase‹!« Er sah unsere fragenden Blicke und erklärte: »Ein Felsvorsprung nach dem ersten Drittel der Wand – von oben gesehen. Ich weiß, daß Gasconne ein ganz guter Bergsteiger ist, aber um diese Uhrzeit in die Wand einzusteigen, ist für ihn sehr gefährlich.«
Er berichtete uns während der Fahrt von Gasconnes Engagement im Lerois-Fall. Sah so aus, als hätten wir es mit einem ehrgeizigen Reporter zu tun, der die Geschichte von dem Verschwinden der Brüder neu aufrühren wollte, um sich in den Vordergrund zu spielen. Solche Leute waren gefährlich und konnten unsere Arbeit empfindlich stören, falls es für uns überhaupt etwas zu tun gab.
»Wie ist das eigentlich mit dem Magier, der angeblich in der Felswand umgekommen ist?« fragte Jane, während sie aufmerksam aus dem Seitenfenster blickte und die Todeswand musterte. »Bill Conolly wußte nichts Genaues.«
»Alte Geschichten«, winkte Shaun ab. »Das war im fünfzehnten Jahrhundert. Der Mann stammte aus Italien, aus Turin, und er war den Leuten hier in der Gegend unheimlich. Sie schleppten ihn kurzerhand auf den Berg und stießen ihn in die Tiefe. Angeblich trug er bei seiner Ermordung nur einen weiten, samtenen Mantel. Schwarz. Mehr nicht. Ach ja, der Mann hieß Portaguerra.«
Ich runzelte die Stirn. »Soweit ich Italienisch verstehe, heißt das nicht ›Kriegsträger‹ oder so ähnlich?«
Shaun lachte dröhnend. »So könnten man es übersetzen, ja, John! Reden wir nicht mehr darüber. Sagen und Märchen!«
Ich hätte ihn darüber aufklären können, daß in Volkssagen und Märchen oft Hinweise auf sehr alte Dämonen und Geister verborgen waren und mir bei meiner Arbeit durchaus helfen konnten, aber ich ließ es sein. Ich mußte selbst herausfinden, was es mit dieser Todeswand auf sich hatte.
Die Gondel schwebte in die Bergstation. Schade, daß wir von dem herrlichen Ausblick nicht viel mitbekommen hatten. Doch das ließ sich nachholen. Shaun versicherte uns, daß wir im Berghotel Zimmer mit Blick über das gesamte Alpenmassiv hätten.
Dann sah ich den Liftwart in der Bergstation, einen Mann mit einem verschlossenen, unfreundlichen Gesicht und einem bitteren Zug um den Mund. Er saß in einem Rollstuhl, kam an die Gondel und öffnete für uns die Tür. Wortlos nickte er Shaun zu. Uns beachtete er gar nicht.
»Hast du Gasconne gesehen?« erkundigte sich unser Führer.
Der Liftwart nickte. »Ist zur Todeswand gegangen«, brummte er so undeutlich, daß ich ihn kaum verstand. So großartig waren meine Französischkenntnisse nun auch nicht. »Dieser Verrückte! Muß in die Todeswand klettern, nur um seine Sensation zu haben!«
Jane warf mir einen hilfesuchenden Blick zu. Sie fror in ihrer leichten Kleidung. Hier oben war es erbärmlich kühl. Ich trieb Shaun an, und wir liefen fast die ungefähr zweihundert Meter zu dem Berghotel hinüber. Jane kam blaugefroren in der Halle an und atmete auf, als uns wärmere Luft umfing. Der rothaarige Riese schleppte noch immer unser Gepäck bis auf meinen Einsatzkoffer, den ich nicht aus der Hand gab. In ihm lagen meine Waffen gegen meine höllischen Feinde. Er war zu wertvoll, um ihn jemandem außer meinen engsten Freunden anzuvertrauen.
»Das ist Madame Lerois«, stellte Shaun die Frau hinter der Rezeption vor. Ich achtete
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