0116 - Der Traum-Dämon
hinüber. Es lag nur knapp Schritte entfernt. Ein schmaler, mit Natursteinplatten belegter Weg führte hinüber. Die Trauerweiden in dem parkähnlichen Garten glichen bizarren Ungetümen. Die langen, peitschenschnurartigen Äste bewegten sich im kühlen Nachtwind.
Wyndboghs Blick huschte an der von wildem Efeu überwucherten Fassade der großen, alten Villa empor. Hinter keinem der Fenster brannte Licht. Gut. Seine Frau schlief also. Das war sehr gut.
Er kicherte.
Niemand ahnte etwas von seinem Doppelleben. Niemand wußte, daß er für das böse Ich seines Vaters tätig war.
Tagsüber war er der biedere, gutaussehende Charles M. Wyndbogh, dank der Großzügigkeit und des Geldes seiner Frau, Inhaber eines gutgehenden Immobilienbüros. Er war beliebt. Und reich.
Doch das genügte dem Ich seines Vaters nicht. Es zwang ihn, Mädchen zu belästigen und umzubringen!
Lange hatte er ihm widerstehen können. Aber jetzt war es zu stark geworden. Er konnte ihm nichts mehr entgegensetzen.
Deshalb hatte er sich arrangiert. Unterworfen.
Er ging langsamer. Die frische Luft tat ihm gut. Sie klärte seine Gedanken.
Die Erinnerung an das Geschehene kehrte zurück. Machtvoll war sie. Machtvoll und grausig.
Das Mädchen war ihm entkommen, obwohl er überall nach ihr gesucht hatte. Er war durch den Wald gelaufen, kreuz und quer.
Vergebens. Laureen Fuller war und blieb verschwunden.
Schließlich hatte er aufgegeben.
Gerade noch rechtzeitig. Ein paar Minuten später, und er wäre den beiden Männern direkt in die Hände gelaufen.
Die Männer…
Wenn sie nicht so schnell ausgewichen wären, hätte er sie überfahren.
Dann waren diese Gedanken auch schon wieder weg.
»Morgen, liebe Laureen… Morgen!« flüsterte er heiser.
Seine langgliedrigen Hände öffneten und schlossen sich rhythmisch. Sein Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich. Sekundenlang schien eine schwarze Nebelwolke vor seinen Augen zu wogen.
Ein Beweis dafür, daß das Ich seines Vaters sehr aufmerksam seine Gedanken mit verfolgte.
»Vielleicht werde ich sie töten, Dad«, flüsterte er entrückt. »Sie war nicht brav. Sie ist weggelaufen. Ich habe sie gewarnt.«
Charles M. Wyndbogh wußte, daß er sich richtig verhielt. Sein Vater war zufrieden mit ihm.
Er erreichte die steinerne Treppe, die zu dem massiven Eichenholzportal hinaufführte. Links und rechts ragte je ein Steinlöwe auf.
Seine Frau hatte auf solcherlei Prunk bestanden. Überhaupt: Seine Frau setzte ihren Willen immer durch. Nötigenfalls mit der eiskalt ausgesprochenen Drohung: Du lebst in meinem Haus und von meinem Geld. Wenn dir das nicht paßt, kannst du jederzeit deine Koffer packen und verschwinden. Niemand hält dich.
Er gab immer nach.
Aber in den letzten Tagen hatte er sich schon mehrmals bei dem Gedanken ertappt, ob es nicht möglich wäre, Edna zum Schweigen zu bringen. Sein Vater hatte sich dazu jedoch nicht geäußert. Und ohne dessen ausdrücklichen Befehl unternahm er nichts. Er allein wäre niemals in der Lage, einen Menschen umzubringen. Nicht einmal Blut konnte er sehen. Davon wurde ihm schlecht. Nein, nein, wenn schon, dann brauchte er die Hilfe des anderen Ichs.
Seine Rechte fuhr in die Jackettasche, um den Hausschlüssel hervorzukramen.
Da geschah es!
Der Löwe zu seiner Rechten bewegte sich!
Charles M. Wyndbogh sah es nicht. Noch nicht. Aber instinktiv spürte er die tödliche Gefahr, die sich irrsinnig schnell verdichtete.
Er kreiselte herum. Seine Augen weiteten sich.
Der Löwe bewegte sich mit gleitender, kraftvoller Geschmeidigkeit. Obwohl er nach wie vor aus Stein war! Aus grauem, porösem Stein! Das Maul öffnete sich.
»Das gibt es doch nicht!« flüsterte Charles M. Wyndbogh fassungslos.
Ein dumpfes Grollen brach aus dem Rachen des Löwen. Nur noch eine Armlänge trennte den Immobilienmakler von der lebenden Steinbestie!
»Weg! Verschwinde! Dich gibt es nicht!« kreischte Wyndbogh los.
Die Bestie sprang!
Ein knallharter, brutaler Schlag traf den Makler an der Schläfe, dann an der Kehle. Ein Geräusch wie von zerreißendem Papier…
Eine schmerzhafte Explosion erhellte sein Bewußtsein und das seines zweiten Ichs. Im roten Gleißen dieser Explosionen vereinigten sie sich miteinander.
Dann war es vorbei. Charles M. Wyndbogh lebte nicht mehr.
***
Für die Strecke Hampstead Heath-London City brauchten wir mit dem Bentley eine knappe halbe Stunde. Tagsüber wäre dies unmöglich zu schaffen gewesen. Da herrschte auf der Finchley Road A-41, die
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