012 - Das Schloß des Schreckens
weißgekleidete Gestalt mit langem blondem Haar, die Hände an der Kehle des Unglücklichen verkrallt.
Sie erwürgte den Mann in der Djeballa, und zugleich presste sie ihre Lippen auf den weitgeöffneten, krampfhaft nach Luft schnappenden Mund wie bei einem grotesken Kuss. Es war ein Kuss, der Kuss des Todes.
Hinter dem wie erstarrt stehenden Dean Warren schrien die Negerin und die Französin los. Die weiße Gestalt saugte am Mund des nun reglos Daliegenden. Ein Zucken ging durch sie hindurch. Sie schüttelte sich und stieß ein leises Stöhnen aus, einen Laut der Lust und der Wonne.
Dann sah sie auf. Dean Warren sah in Glorya Glantons bildschönes, von goldenen Haaren eingerahmtes Gesicht. Die .herzförmigen Lippen klafften etwas auseinander und zeigten die ebenmäßigen weißen Perlzähne. So schön war sie, dass Dean Warren einen leisen Stich im Herzen spürte, wie immer, wenn er sie sah.
Glorya Glanton erhob sich. Arabische Worte sprudelten aus ihrem Mund. Entsetzt wichen die Negerin und die Französin zurück. Und dann stieß Glorya Glanton ein Lachen aus, ein Lachen, so schrecklich und böse, wie keine menschliche Kreatur es hervorbringen konnte.
So lachte der Satan über die Qualen der verlorenen Seelen, ging es Dean Warren durch den Kopf.
Die Negerin und die Französin flohen. Die weißgekleidete Gestalt drehte sich um und ging ohne Aufenthalt durch die Wand, so wie ein Mensch durch einen Rauchvorhang schreitet. Dean Warren sah zwei Einschusslöcher in der Nähe des Genicks in ihrem weißen Kleid. Die Einschüsse waren schwarz gerändert; eine zeigte eine Spur von Pulverschmauch. Doch kein Tropfen Blut kam aus den Schusswunden.
***
Der Tote war Ahmed Bey, ein Mitglied des Kabinetts und ein enger Vertrauter des Königs. Das gesamte Haus wurde von Polizeitruppen abgesperrt, die hysterisch schluchzenden beiden Frauen und Dean Warren an Ort und Stelle vernommen.
Wahrheitsgemäß schilderten sie ihre Erlebnisse. Dean Warren verschwieg lediglich, dass er in der Mörderin, in jenem furchtbaren Gespenst, Glorya Glanton erkannt hatte. Dean Warren war der einzige, auf den kein Verdacht fiel. Der Polizeioffizier hatte seine Identität rasch nachprüfen können.
»Sie haben sich für Ihren Besuch in diesem charmanten Haus eine denkbar ungünstige Zeit ausgesucht«, sagte der Polizeioffizier, ein schlanker braunhäutiger Mann mit dunklen Augen und einem schwarzen Bärtchen auf der Oberlippe. Er trug eine makellose helle Paradeuniform. »Ausgerechnet heute fand der Mordanschlag auf Ahmed Bey statt, der regelmäßig hier verkehrte. Es besteht kein Zweifel daran, dass er von einer Agentin, einem der Mädchen hier, ums Leben gebracht wurde.«
Dean Warren, der Polizeioffizier und drei weitere Polizisten saßen im nüchtern eingerichteten Büro der Besitzerin des Hauses. Zigarettenrauch schwebte im Raum.
»Das war kein Mädchen und keine Frau«, sagte Dean Warren, »das war überhaupt kein Mensch, sondern ein, Ghul’, ein Geist, ein Gespenst. Ein übernatürliches Wesen. Wie hätte es sonst alleine den Leibwächter in die Flucht schlagen und Ahmed Bety töten können? Außerdem ging es •— oder sie — durch die Wand davon, nachdem die schreckliche Tat vollendet war.«
Der Polizeioffizier — sein Name war Kemal Beyzak — schüttelte lächelnd den Kopf.
»Sie sind genauso einem Betrug zum Opfer gefallen wie der Leibwächter Ahmed Beys, Mr. Warren.« Kemal Beyzak sprach ein gutes Englisch mit starkem Akzent, aber deutlich zu verstehen. »Die Mörderin muss eine kugelsichere Weste getragen haben, denn der Leibwächter schoss auf sie. Wir fanden die Patronenhülsen der Pistole. Ich nehme an, dass sie Ahmed Bey durch einen Giftstoff betäubte und tötete, der durch die Haut oder auf ähnliche Weise in seinen Blutkreislauf gelangte. Die Würgemale am Halse Ahmed Beys sind nur von sekundärer Bedeutung. Was das Verschwinden durch die Wand angeht, so kann es sich nur um einen mit Spiegeln erzielten Effekt, einen Gauklertrick oder eine • Halluzination Ihrerseits, handeln, Mr. Warren. — Die Tat wurde hier im Hause geplant und ausgeführt. Die Verantwortlichen werden ihrer Strafe nicht entgehen. — Halten Sie sich zu unserer Verfügung, Mr. Warren. Es genügt, wenn Sie zu erreichen sind. — Wenn Sie wollen, können Sie gehen.«
Dean Warren trat hinaus auf die Straße. Es war drei Uhr morgens, eine frische, kühle Nacht. Nach der Hitze des Tages waren die Nächte in Tanger überraschend kalt. Dean Warren wusste,
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