012 - Der mordende Schrumpfkopf
lächelndem, glücklichem Gesicht und strahlenden Augen,
wurde der Haß, den er Estrello gegenüber empfand, noch stärker.
Diese Frau hatte er einmal geliebt. Damals, vor sieben Jahren,
waren sie sich zum erstenmal begegnet.
Er, Vernon, war aus der Ferne zurückgekehrt. Drei Jahre auf See,
eine lange Zeit. Dann wieder in Marseille, in Paris. In einem Nachtclub sah er
Anja. Sie tanzte, sang und riß das männliche Publikum mit. Was sie tat, geschah
mit weiblichem Charme und einer unübertrefflichen Grazie. Selbst der
Striptease-Tanz, den sie aufs Parkett legte, hatte Format. Nichts war
zweitklassig, nichts ordinär. Sie deutete nur an und zeigte nie alles.
Vernon lernte sie in dieser Nacht kennen. Sie verstanden sich auf
den ersten Blick. Sie war achtzehn, er war zwanzig. Sie sahen sich, verstanden
sich, liebten sich.
Wie eine Flutwelle schlugen die Ereignisse der Vergangenheit vor
dem geistigen Auge Vernons zusammen.
Er sah sich in der Bar. Es war früh am Morgen. Keine Gäste mehr.
Nur sie allein. Er und Anja. Sie war Russin, aber in Paris aufgewachsen. Ihr
Vater war im diplomatischen Dienst tätig, ihre Mutter eine geachtete und
populäre Künstlerin. Sie spielte Klavier, und in vielen Solokonzerten hatte sie
die internationale Kritik und ein anspruchsvolles Publikum überzeugt.
Vernon und Anja wurden sich einig: man wollte zusammenbleiben.
Aber das war, nicht einfach. Ein Mann stand zwischen ihnen - einer, der Anja
liebte, und der zu diesem Zeitpunkt selbst anfing, eine Weltkarriere
aufzubauen: Estrello!
Mit bürgerlichem Namen hieß er Maurice Trudeau. Angefangen hatte
er mit kleinen Zauberkunststücken, mit Kartentricks auf Veranstaltungen von
Vereinen und Clubs. Dann hatte er eigene Zauberkunststücke entwickelt, Auftritte
in Varietes und im Fernsehen waren erfolgt. Damals war Trudeau alias Estrello
Mitte dreißig. Auf dem Weg zu einer einmaligen Karriere ging er rücksichtslos
gegen alle vor, die ihm Hindernisse entgegenstellten.
Dieser Mann liebte Anja ebenfalls. Er hatte bestimmte Pläne mit
ihr, und er hatte ihr den Kopf verdreht mit seinen Träumen und Vorstellungen
von der Zukunft.
Anja fühlte sich nicht zu Estrello hingezogen, war aber in
gewissem Sinn abhängig von ihm, da wegen ihrer künstlerischen Tätigkeit in der
Bar ihre Familie alle Kontakte zu ihr abgebrochen hatte.
Anja hatte versucht, einen eigenen Weg zu finden. Sie war sich im
klaren darüber, daß dieser Weg, den sie jetzt eingeschlagen hatte, nicht der
richtige war. Aber sie brauchte ein Sprungbrett. In dieser exquisiten Bar
verkehrten Künstler, Schauspieler und Schriftsteller, Leute von Film und
Fernsehen, und sie hoffte, irgendwann auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatte
das Zeug dazu, eine große Künstlerin zu werden.
Vernon mußte daran denken, daß Anja sich ängstlich zeigte, als sie
erfuhr, daß er, Paul, mit ihr durchbrennen wollte. Der Schatten Estrellos lag
schon über ihrem Leben. Sie war an diesen Mann gekettet, ohne es sich erklären
zu können. Er war ihr Gönner - aber sie liebte ihn nicht! Vernon hingegen war
ein armes Würstchen - aber ihn liebte sie. Und Liebe vermochte viel. Vernon
besprach alles mit ihr. Anja war bereit, ihm zu folgen.
Aber über Nacht kam es anders.
Als er in das saubere Zimmer trat, in dem sie untergebracht war,
fand er außer ihr auch Estrello vor.
Damals schon warnte sie ihn. »Er steht mit dem Teufel im Bund. Laß
deine Finger von mir, Paul! Er ist in der Lage, dich und mich zu vernichten.
Ich glaube, in meinem jugendlichen Leichtsinn hätte ich einen Fehler begangen,
den ich in meinem ganzen Leben nicht wieder hätte gutmachen können. Schlag dir
aus dem Kopf, daß ich dich begleiten werde, Paul! Da ist nichts drin. Ich weiß,
wo mein Platz ist: an der Seite Estrellos. Er kennt den besseren Weg für mich.«
Anja hatte gelächelt. Dieses Lächeln hatte sich für alle Zeiten in
seine Erinnerung eingebrannt. Er hatte versucht, sie von dem absurden Gedanken
loszubringen. Aber die Macht Estrellos war stärker als die seine, und zum
erstenmal war ihm damals der Gedanke gekommen, daß bei dem Magier tatsächlich
nicht alles mit rechten Dingen zuging. Er hatte Anja verhext oder hypnotisiert.
Und jetzt, in diesem Augenblick, wo Paul Vernon im dunklen Theater
am Strand weilte und die damals verlassene Geliebte wiedersah, beobachtete er
das Treiben und das Handeln Anjas mit gemischten Gefühlen.
Sie sah glücklich aus - aber war sie wirklich glücklich? Er konnte
es sich nicht
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