012 - Der mordende Schrumpfkopf
durchfahren müssen.
X-RAY-3 näherte sich der parkähnlichen Anlage. Von hier aus war
das Elend der armen Einwohner nicht zu sehen. Eine Welt für sich! Schön und
sauber. Man konnte hier leben wie ein Fürst, wenn man das nötige Kleingeld dazu
hatte.
Niemand kümmerte sich um ihn. Diese Bungalow-Siedlung lag wie
ausgestorben. Im Augenblick schien außer Estrello niemand hier zu wohnen. Keine
geparkten Autos, keine Menschen.
Unter dem mächtigen Wipfel eines Baums stand ein Bungalow, dessen
Fenster und Türen weit geöffnet waren.
X-RAY-3 hörte leise Stimmen.
»...Sie begehen einen grundsätzlichen Fehler, junger Mann.« Es war
die Stimme einer Frau. Sie klang ängstlich. Larry kam näher. Er hielt sich in
unmittelbarer Nähe der Hauswand. Der Abendschatten nahm seinen Körper fast
völlig auf.
»Entweder Sie sagen mir jetzt, wo er sich befindet, oder ich töte
Sie!« Es war die Stimme eines Mannes. Sie klang erregt, aber nicht überzeugend.
»Seit zwei Tagen bin ich hinter ihm her, ich habe Stunden um Stunden gewartet.
Ich habe gesehen, daß er den Bus nicht verlassen hat. Er hält sich auch nicht
hier in der Siedlung auf. Aber irgendwo muß er doch sein!«
»Ich weiß es selbst nicht.« Anja seufzte. Ihr Gesicht war bleich.
Sie blickte auf den Revolver, der auf sie gerichtet war. Bei dem jungen Mann,
der vor ihr stand, handelte es sich um Jorge.
Er sprach weiter: »Das Verschwinden meiner Freundin hängt mit
Estrello zusammen, ich weiß es. Er hat irgendeine Schweinerei begangen. Wenn er
Juanita auch nur ein Haar gekrümmt hat, ergeht es ihm schlecht!«
»Nicht so heftig, junger Mann!« Anja gab sich alle Mühe, ihren
ungebetenen Gast, der offenbar über die Terrasse in den großen, schwach
beleuchteten Wohnraum eingedrungen war, zu besänftigen. »Ich kann Ihren Ärger
und Ihre Sorge verstehen. Aber finden Sie es wirklich richtig, mich zu bedrohen
- wenn Sie ein Hühnchen mit Estrello zu rupfen haben? Ich würde Ihnen gern
weiterhelfen, glauben Sie mir. Daß Estrello seit vierundzwanzig Stunden
überfällig ist, gibt auch mir zu denken. Allerdings anders, als Sie zu denken
vermögen. Vielleicht hängt es wirklich mit Ihrer Freundin zusammen. Könnte es
nicht sein, daß er mit ihr durchgebrannt ist? Sie war sicher sehr attraktiv,
nicht wahr? Estrello hatte schon seit jeher eine Schwäche für schöne Frauen.«
Jorge schluckte. Von dieser Seite hatte er das Problem noch nicht
durchleuchtet. Unwillig schüttelte er den Kopf. »Sie wollen mich hinhalten«,
stieß er hervor. »Ich bin nicht so leicht zu besänftigen wie unsere Polizei.
Ich sehe die Dinge realistischer. Juanita wollte mir freie Bahn schaffen.
Estrello muß sie dabei erwischt haben. Er hat sie umgebracht, nicht wahr?
Juanita hatte Angst vor ihm, ich weiß es genau.«
»Wenn Sie so gut unterrichtet sind, wäre es da nicht besser, Sie
würden sich an die nächste Polizeidienststelle wenden?« Anja wollte sich
langsam umdrehen und der grünen Polstergarnitur zuwenden.
»Bleiben Sie stehen!« kommandierte Jorge. Man hörte ihm an, daß er
sich selbst nicht wohl in der Rolle fühlte, die er spielte. Aber selbst wenn er
nicht die Absicht hatte, seine Waffe einzusetzen, konnte eine unbedachte
Bewegung oder eine Kurzschlußhandlung zu einer Katastrophe führen.
Anja blieb stehen und wandte ihm das hübsche Profil zu. »Machen
Sie sich nicht unglücklich«, flüsterte sie. »Ich kann nur das noch mal betonen,
was ich Ihnen bereits eingangs sagte: Als wir hier ankamen, ging ich allein ins
Haus. Estrello wollte nachkommen. Das sagte ich auch zu Bertrand, unserem
Fahrer. Als Estrello zu lange blieb, sahen wir nach. Es befand sich niemand im
Bus.«
»Aber irgendwo muß er gewesen sein! Er ahnt, daß ich ihm auf den
Fersen bin, und...«
Larry Brent hielt es für an der Zeit, dem seltsamen Dialog ein
Ende zu bereiten. Unbemerkt von Jorge war er lautlos auf dem Teppichboden näher
gekommen. Auch Anja sah den Eindringling hinter dem Schatten der Tür viel zu
spät.
X-RAY-3 bohrte seinen rechten Zeigefinger in Jorges Rücken und
sagte: »Lassen Sie den Ballermann fallen, junger Freund! Sonst geht meiner los,
und das ist eine ziemlich unangenehme Sache!«
Jorge zuckte zusammen. Anja stand wie zur Salzsäule erstarrt. Die
Tatsache, daß noch ein weiterer Fremder in ihren Wohnbereich eingedrungen war,
schien sie vollends aus der Fassung zu bringen.
Jorge ließ sich auf kein Risiko ein, dazu hatte er nicht die
Nerven. Sein Revolver fiel dumpf
zu Boden.
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