0121 - Ich suche Jerry Cotton
gefangengehalten, befreit mich! Was dann?«
Watkins runzelte die Stirn. Dann grinste er plötzlich:
»Das wäre großartig! Dann könnte ich dieser Teufelsbrut endlich mal zeigen, wozu ich hier Polizist bin!«
Er war so begeistert, daß er sich in einen längeren Redeschwall gegen Klein-Sizilien Luft machte.
»Hören Sie mal« sagte er plötzlich, »Sie sagen das doch nicht einfach so! Haben Sie etwa einen bestimmten Verdacht?«
Ich nickte:
»Den habe ich. Watkins, nehmen Sie Ihre Artillerie und kommen Sie mit. Ich wollte immer schon mal nach Sizilien, jetzt komme ich wenigstens schon mal nach einer Miniaturausgabe davon…«
***
Ich war noch nie in Sizilien, aber ich glaube nicht, daß es dort so aussieht wie in dem Nest, das wir zwei Stunden später betraten. Es gab nicht ein einziges Haus, das diese Bezeichnung verdient hätte. Die Buden bestanden aus Brettern, irgendwo gefundenen Reklameschildern, Kistenwänden, die noch Firmenaufdrucke oder Werbesprüche trugen und aus tausenderlei anderem Material. Fenster mit Glas gab es nur sehr wenige, meistens hatte man ein paar in den Wänden ausgesparte Löcher entweder völlig leergelassen oder mit durchsichtigem Einweckpapier bespannt.
Eine Straße zu dem Nest gab es überhaupt nicht. An einer bestimmten Stelle der nächsten Straße führte ein ausgetrampelter Pfad ab, dem wir mit dem Wagen mehr schlecht als recht folgen konnten.
Im Dorf empfing uns eine Horde brüllender Kinder. Sie hatten die Hand ausgestreckt und wiederholten immer wieder dasselbe Wort, das ich nicht verstand. Aber die ausgestreckten Hände verrieten deutlicher als ihre Zungen, was sie wollten: Geld.
Ich griff in die Rocktasche, suchte mein ganzes Kleingeld zusammen und warf es weit fort von den Hütten in das spärliche Küstengras.
»Raffiniert«, grinste Watkins, als wir die Kinder schlagartig loswurden.
Er führte mich durch das Gewirr der Buden hindurch. Vor einer Hütte, die am größten von allen war, lag ein Mann ausgestreckt unter einem Vorbau, der ihn vor den Sonnenstrahlen schützte.
Er sah mehr als verwildert aus. Sein Bart war mindestens eine Woche alt. Vom Gesicht war nichts zu erkennen, denn er hatte irgendeinen widrigen Hautausschlag oder eine Hautkrankheit. Eitrige Blasen, verschorfte Wunden, in Ffetzen abblättemde Haut - das war sein Gesicht.
Der Schädel war kahl rasiert und hatte ein paar blutige Stellen in der Haut. Irgendwo hing ein penetranter Geruch. Ich schnupperte eine Weile, bis mir klar wurde,.daß es Petroleum sein mußte.
Der Mann war mit einem alten Fetzen bekleidet, der den Namen Hose nicht verdiente. Seine sonst nackte Brust war mit breiten, schmutzigen Tüchern umwickelt. Arme und Füße waren nackt.
Ich kniete nieder. No, das konnte Jerry nicht sein. Aber vermutlich hatte Watkins diesen Mann auch gar nicht gemeint.
»Sieht scheußlich aus, der arme Kerl, was?« murmelte ich.
»Ja, sehr scheußlich. Möchte wissen, was mit ihm ist.«
»Gibt es keinen Arzt in der Nähe?«
»Die lassen keinen Arzt herein.«
»Was? Aber der Mann ist bewußtlos! Er muß in ärztliche Behandlung! Er muß ganz einfach!«
»Decker, hören Sie doch endlich auf, hier mit Maßstäben zu messen, die in New York und in jeder anderen zivilisierten Gegend der Welt angebracht sein mögen. Hier haben Sie ein Stück Mittelalter in der Neuzeit. Das Dorf würde einen Arzt totschlagen, den es nicht haben will.«
Ich richtete mich wieder auf. Fliegen krochen in den offenen Wunden des Mannes herum. Er konnte niemals gesund werden. Im Grunde genommen war sein ganzer Körper eine einzige offene Wunde.
»Bambino mio«, sagte plötzlich eine Stimme aus dem Innern der Hütte her.
Gleich darauf kam ein schwarzhaariges Mädchen heraus. Sie mochte achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein. Alles an ihr war schwarz: Die Haaie, die Augen, die ungewaschenen Füße, die Fingernägel und die Tücher, in die sie gekleidet war.
Kaum hatte sie uns erblickt, da sprang sie uns fauchend wie eine junge Löwin an. Sie stellte sich breitbeinig vor den Kranken und breitete die Arme aus, als wollte sie eine Mauer vor ihm bilden.
»Weg!« fauchte sie uns in schlechtem, aber verständlichem Englisch an. »Weg! Schnell weg! Dorf euch töten!«
»Moment mal«, sagte ich. »Wir wollen euch ja nichts tun! Ich möchte nur mit dem neuen Mann bei euch sprechen.«
»Keine neue Mann im Dorf!« fauchte sie.
Ihre Zähne waren weiß und schimmerten wie Perlen. Wenn sie sich einmal gründlich gewaschen hätte, wäre
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