Stille mein Sehnen
Kapitel 1
Faith sah zu der alten Stadtvilla auf der anderen Straßenseite. In der Hand hielt sie die Zeitungsseite mit der Annonce. Engagierte Bardame gesucht. Flexible Arbeitszeiten bei hoher Bezahlung. Absolute Diskretion erforderlich.
Sie brauchte diesen Job. Dringend! Irgendetwas hielt sie jedoch davon ab, hinüberzugehen. Das Gebäude sah grau und düster aus. Der Zahn der Zeit hatte einen dunklen Schleier über den Stein gelegt. Hinter einem der Fenster sah sie Licht – einen blassen Schein, der vermutlich von einer Schreibtischlampe herrührte. In fünf Minuten war sie mit Aidan Ross, dem Besitzer des Clubs, zu einem Vorstellungsgespräch in dessen Büro verabredet. Es war das vierzehnte Jobangebot, auf das sie sich bewarb, das vierzehnte Gespräch und vermutlich der vierzehnte Reinfall.
Am Telefon hinterließ Mr. Ross zwar einen sympathischen Eindruck, die Stimme war angenehm warm und ruhig gewesen, doch das sagte nichts aus. Andere Bewerbungsgespräche waren trotz freundlicher Stimme und adrettem Äußeren gründlich in die Hose gegangen. Offene Avancen oder Zudringlichkeiten nahmen ihr den Glauben an das Gute im Menschen. Warum war es so schwer, einen Job als Bartenderin zu finden? Sie wollte nichts weiter, als Geld verdienen und ihrer Leidenschaft für Cocktails frönen.
Entpuppte sich Mr. Ross ebenfalls als aufdringlicher Schmierenkomödiant, stand sie vor einem echten Problem. Faith seufzte, wusste sie doch: egal, was für ein Mensch er war, sie musste den Job annehmen. In ihrem Portemonnaie befanden sich noch sechs Pfund.
Faith straffte den Rücken, holte tief Luft, überquerte die Straße und stieg die fünf Stufen zur Tür hinauf. Energisch drückte sie auf die Messingklingel. Nach wenigen Augenblicken erklang eine dunkle, herrische Stimme.
„Ja?“
„Mein Name ist Faith Evans. Wir hatten wegen der ausgeschriebenen Stelle telefoniert.“
Schweigen.
Ein Summgeräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Über der Eingangstür befand sich eine Kamera. Gequält lächelnd sah sie hinauf. Ihr Unbehagen wuchs von Minute zu Minute.
„Gehen Sie rechts am Gebäude vorbei, durch das eiserne Tor und nehmen Sie die zweite Tür.“ Ein Klicken signalisierte das Ende des Gespräches.
Der Innenhof war typisch für die Londoner Nobelgegend, vorne hui und hinten pfui. In einer Ecke des Hofes lag ein Berg aus Schutt und Sperrmüll. Die letzten Sonnenstrahlen warfen diffuses Licht auf das Areal. Eine zweiflügelige Stahltür, mit Rostflecken übersät, sicherte das Gebäude von hinten. Als sie an dem Knauf zog, öffnete sich die Tür quietschend und gab den Blick in einen langen, spärlich beleuchteten Gang frei. Vier weitere Türen gingen davon ab. Eine beängstigende Beklemmung griff ihr mit eisigen Fingern in den Nacken. Von diesem Mr. Ross war nichts zu sehen.
Bereits genervt wollte sie am liebsten auf dem Absatz kehrtmachen. Die feine englische Art war dieses Benehmen nicht. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie selbst etliche Bewerbungsgespräche geführt. Ein solches Desinteresse gegenüber einem potenziellen Mitarbeiter zu zeigen, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Das war allerdings in einem früheren Leben gewesen. Jetzt stand sie auf der anderen Seite des Schreibtisches, war die Suchende und musste sich den Allüren eines Chefs beugen.
„Hallo?“, rief sie und ärgerte sich, dass ihre Stimme nicht annähernd so fest klang, wie sie es gern gehabt hätte.
Am Ende des Ganges öffnete sich eine Tür. Die Silhouette eines Mannes zeichnete sich vor dem Lichtschein ab. Mit festen Schritten kam er ihr entgegen.
„Ms. Evans? Bitte entschuldigen Sie! Ich musste ein Telefonat beenden.“ Er reichte ihr die Hand, und ein strahlendes Lächeln empfing sie. Der Händedruck war kraftvoll und warm.
„Mr. Ross, nehme ich an?“
„Ja. Kommen Sie bitte in mein Büro. Wir müssen uns nicht zwischen Tür und Angel unterhalten.“
Die warme Hand legte sich auf ihren Rücken und dirigierte sie sanft, aber bestimmend ins Büro. Mr. Ross trat hinter den Schreibtisch, deutete auf den Stuhl davor, ließ sich in seinen Sessel fallen und lächelte.
Faith stockte der Atem. Bereits seine Statur imponierte ihr. Da sie selbst ein Meter zweiundachtzig maß, begegneten ihr nicht oft Männer, die sie überragten, erst recht nicht, wenn sie High Heels trug. Mr. Ross war mindestens zehn Zentimeter größer als sie, breitschultrig, athletisch gebaut. Dunkelbraunes, akkurat geschnittenes Haar umrahmte ein ausdrucksstarkes
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