014 - Die Insel der wandelnden Toten
erst wahr, als diese auf sich aufmerksam machten. Die Frauen waren schön, trugen wallende, halbtransparente und bis zum Boden reichende Gewänder, und ihre grünschillernden Haare waren zu hohen Turmfrisuren gekämmt und von wildem Wein umrankt.
»Bevor ihr euren Hunger stillt, laßt euch warnen. Einer von euch dreien wird diese Tafel nicht lebend verlassen, denn eines der Gerichte ist vergiftet. Überlegt also gut, für welchen Platz ihr euch entscheidet! Einer von euch muß sterben, denn jede von uns kann nur einen Mann lieben.«
Marcello dachte keinen Moment daran, die Frauen mit Waffengewalt dazu zu zwingen, ihm zu verraten, welche der Speise vergiftet war. Er überlegte nur fieberhaft, welches Gericht wohl kein Gift enthielt, und er entschloß sich, den Platz zur Rechten der einen Frau zu wählen.
»Ich bin Stheno«, sagte die Frau verführerisch, als er sich an ihrer rechten Seite niederließ.
Antonio belegte den Sitz rechts von der anderen Frau mit Beschlag.
»Ich bin Euryale«, zirpte sie.
Der dritte Mafiosi stürzte sich bedenkenlos auf den verbliebenen Platz, ergriff eine köstlich anzusehende Fleischkeule und riß mit den Zähnen ein Stück davon ab.
Marcello und Antonio kauten ebenfalls bereits. Sie warfen sich bezeichnende Blicke zu, während sie einen Bissen nach dem anderen hinunterschlangen. Und dann begannen sie alle drei zu lachen.
Aber der dritte Mann lachte nicht lange. Er gab plötzlich röchelnde Laute von sich, rang nach Atem, bäumte sich auf und griff sich an den Hals. Seine Augen traten aus den Höhlen, und sein Gesicht verfärbte sich bläulich. Er taumelte zurück und stürzte zu Boden. Marcello kümmerte sich nicht um ihn. Er nahm nur am Rande wahr, was mit seinem Gefährten geschah; es berührte ihn überhaupt nicht. Einige Alte eilten herbei, packten den Toten mit gierigen Händen und zerrten ihn hinaus.
»Auch Greise sind hungrig«, kommentierte Stheno.
Marcello dachte sich nichts weiter dabei. Er aß, bis er nicht mehr konnte. Danach fühlte er sich so wohlig müde und entspannt, daß er sofort auf dem Sessel hätte einschlafen können. Doch Stheno gönnte ihm die ersehnte Ruhe nicht. Sie strich mit ihren zarten Händen über sein stoppeliges Kinn und hauchte ihm Küsse auf die Wangen. Er erhob sich von seinem Platz und folgte ihr aus dem Gewölbe. Er wußte nicht, was er tat, sondern spürte nur, wie dieses unvergleichliche Weib ihn berauschte. Er hatte schon viele Frauen in seinem Leben gehabt, solche und solche, aber noch nie war er einem weiblichen Wesen wie diesem begegnet. Eine andere hätte es wohl kaum verstanden, einen müden Krieger wie ihn wieder munter zu machen. Das heißt, er war nicht wirklich munter, sondern eher schläfrig, aber er war über alle Maßen erregt; seine Lenden schienen mit Dynamit geladen.
Sie umfaßte ihn mit ihren geschmeidigen Armen und preßte ihn fest an ihren pulsierenden Körper. Ihre Lippen, die sich halb zum Kuß öffneten, glichen einem Vulkan. Feuer sprühte aus ihnen, floß wie Lava durch seinen Mund und durchflutete seinen ganzen Körper.
Dann saugten sich ihre Lippen an seinen fest. Erst als er zu ersticken drohte, riß er sich gewaltsam los. Er öffnete die Augen und sah, wie sich ihre Haare bündelweise bewegten, als führten sie ein eigenes Leben. Sie wiegten sich wie Schlangen nach der Flötenmelodie des Fakirs und schlängelten sich bei jedem Takt der unhörbaren Musik näher an ihn heran. Marcellos Augen wurden groß. Er öffnete den Mund zu einem Schrei.
Sthenos Haare waren tatsächlich Schlangen. Aber das erkannte er erst, als es schon zu spät für ihn war. Die Schlangen aus dem Frauenhaupt umzüngelten seinen Kopf und schnürten ihn ein. Sie erstickten seinen Schrei, und Marcello fühlte, wie er immer müder, immer schwächer wurde, bis seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten.
Schwärze umfing ihn.
Der zweite Tag ging seinem Ende zu. Dorian und Gianni hatten sich an den auf der Karte eingezeichneten Pfad gehalten. Der Kompaß war nicht zu gebrauchen. Die Nadel zeigte nicht nach Norden, sondern drehte sich ständig im Kreis. Ihr einziger Wegweiser waren die Eintragungen auf der Landkarte. Dorian war sich aber nicht ganz sicher, daß sie sich daran halten konnten, weil er nicht wußte, ob die Hinweise tatsächlich von Olivaro stammten. Als sie jedoch nach zwei Tagesmärschen, die praktisch ohne Zwischenfälle verlaufen waren, nur noch fünfzehn Kilometer von Asmodis Hauptquartier entfernt waren, hatte Dorian kaum
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