015 - Der Schatz des Poseidon
regelmäßig beide Augen zudrückten.
Und wenn es auch kaum noch Touristen gab – Leute, die reich genug waren, sich seltene Antiquitäten leisten zu können, gab es immer noch genug, um Ercan Aslan und vielen anderen ein stetes, wenn auch bescheidenes Auskommen zu sichern.
Was Ercan mit ›tief unten‹ meinte, war also klar – aber Sterne ? Wie konnten sich Sterne tief unter der Erde befinden? Niemand hatte sich damals oder seither einen Reim darauf machen können und so hatte man die Worte von Hakans Großvater als das gewertet, was sie sein mussten: das Halluzinieren eines Sterbenden.
Erst am dritten Tag, wenige Minuten vor seinem Tod, hatte Ercan Aslan das Bewusstsein wieder so weit erlangt, dass er die Menschen, die ihn umgaben, erkannte. Er wusste, dass er sterben würde und in Anbetracht der Schmerzen, die seine zerschmetterten Füße verursachten, hatte der Tod seine Schrecken für ihn verloren. Hakan würde niemals vergessen, wie sein Großvater von ihm Abschied genommen hatte: »So verlierst du nun nach dem Vater auch noch dessen Vater«, hatte der Todgeweihte geflüstert. »Armer Junge – und arme Dilara!« Seine Mutter hatte geweint, doch er, Hakan, hatte keine Tränen gehabt.
Manchmal ist der Schmerz zu groß, als dass man weinen könnte.
»Du bist jetzt der einzige Mann in diesem Haus«, hatte Hakan fortgefahren, »und du musst mir etwas versprechen!«
Die Trauer hatte Hakans Kehle zugeschnürt, so dass er nur wortlos nicken konnte.
»Du darfst niemals da hinuntergehen, verstehst du mich? Niemals! Deine Mutter braucht dich; sie hat schon deinen Vater verloren und jetzt mich … Versprichst du mir das? Niemals!« Die letzten Worte waren kaum mehr zu verstehen gewesen.
Hakan Aslan hatte abermals genickt und dann hatte sich doch noch eine Träne aus seinem Auge gelöst.
Nachdem er sie weggewischt hatte und er wieder sehen konnte, war sein Großvater bereits tot gewesen.
Hakan schüttelte seinen Kopf, als könne er damit auch seine Erinnerungen abschütteln. Er öffnete die Haustür, löschte das Licht und trat hinaus in die Nacht. Er tat einen tiefen Atemzug, dann schloss er die Tür hinter sich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass er den Schlüssel eingesteckt hatte.
Es war Mitte August und die Nacht war warm. Das einzige Licht war das der Sterne, doch der größte Teil des Himmels war mit Wolken verhangen.
Eine ideale Nacht – jedenfalls für das, was er vorhatte.
Er trat auf die Straße hinaus, die von Schlaglöchern übersät war. Wer hätte sie auch reparieren sollen? Es gab niemanden, der dafür zuständig war. Keine Regierung mehr in Ankara – nur noch einige Konzerne, die aber allesamt nicht groß genug waren, um in der ersten Garde der Weltkonzerne mitspielen zu können. Von denen kam sowieso keiner auf die Idee, Straßen zu reparieren, die nicht unbedingt für seine eigenen Transporter benötigt wurden. Und von den Dorfbewohnern hatte niemand genug Geld, um es für solche Zwecke aufwenden zu können.
Niemand – außer vielleicht Cengiz Ay.
Es gab viele Gerüchte über diesen korpulenten Mann mit der stets jovialen Miene. Hier im Dorf verfügte er nur über ein kleines Haus und einen alten, verbeulten Bodengleiter, doch es hieß, er besäße in Istanbul einen regelrechten Palast mit vielen Bediensteten und mehreren Nobelfahrzeugen. Woher dieser angebliche Reichtum stammte, wussten die Gerüchte ebenfalls: aus Troja – und anderen Ruinenstädten. Cengiz Ay sollte über Kontakte verfügen, die weit über die Grenzen der ehemaligen Türkei hinausreichten – nach Rheinstadt, Seabath, Zürich …
Und nach Neapel.
Was die Gerüchte nicht erklärten: Wenn Cengiz Ay wirklich so reich war, wie behauptet wurde, weshalb hielt er sich dann immer noch – wenigstens zeitweise – hier im Dorf auf? Und vor allem: Weshalb ging er höchstpersönlich das Risiko ein, das eine nächtliche Grabung in einem bewachten Ruinengelände mit sich brachte? Aus Abenteuerlust? Schwer vorstellbar, aber nicht unmöglich.
Während Hakan Aslan langsam das Dorf verließ und dem verabredeten Treffpunkt entgegen schritt, glitten seine Gedanken zurück zu seinem Großvater und dem Versprechen, das er ihm gegeben hatte.
Dem Versprechen, das er nun im Begriff war zu brechen.
Ein Versprechen, einem Sterbenden gegeben, war etwas Heiliges. Niemand durfte es jemals brechen. Außer vielleicht …
Außer, es ging um das Leben eines Menschen.
Das Leben seiner Mutter.
Medikamente waren teuer und der Arzt
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