015 - Der Schatz des Poseidon
herunterzurieseln, dann machte er sich an den zweiten Teil des Weges. Wieder wartete der Jüngere ungeduldig, bis der Raubgräber das Zeichen gab, ihm zu folgen.
Endlich hatten beide wieder festen Boden unter den Füßen. Hakan sah sich um: Sie befanden sich in einer Art Grube, die aus dem Fels gegraben schien. Vor und hinter ihnen befand sich ein Gemisch aus Erde und Geröll.
»Wir stehen hier bereits in dem waagrecht verlaufenden Gang, auch wenn man es nicht sieht«, erläuterte Cengiz auf den fragenden Blick des Jungen hin. »Ich habe alles schon ausgemessen. In dieser Richtung befindet sich nach ungefähr sechs Metern ein Hohlraum – das ist unser Ziel!«
Entgeistert starrte Hakan in die angegebene Richtung, in der er nur Geröll und Erde sah. »Und wie kommen wir da durch? Indem wir alles abtragen und den Aushub nach oben befördern?«
Cengiz lachte. »So viel Zeit haben wir nicht! Nein, wir werden uns durch die Erde graben wie Wühlmäuse! Auf diese Weise braucht der Gang kaum einen größeren Durchmesser zu haben als wir selbst!«
»Ist das nicht gefährlich?«
Cengiz schnaubte verächtlich. »Gefährlich! Das ganze Leben ist gefährlich!« Er machte eine Pause, in der er mit seinem Helmscheinwerfer die Fortsetzung des Ganges ausleuchtete. »Stell’ dir vor: Wir sind wahrscheinlich seit Jahrtausenden die ersten Menschen, die erfahren, was hinter diesem Geröll liegt! Wir befinden uns hier im soliden Fels, tief unter ›Troja Null‹, der ältesten Bebauungsschicht des Hügels.«
»Wie alt?«, fragte Hakan flüsternd.
Cengiz zuckte die Schultern. »Troja Null wird, glaube ich, auf 3700 bis 3400 vor Christus geschätzt.«
»Heißt das, dass dieser Gang ebenso alt ist?«
»Mindestens! Aber ich bin natürlich kein Archäologe.« Abermals stieß er dieses meckernde Lachen hervor, das Hakan durch Mark und Bein drang. »Ich bin nur ein kleiner Hobby-Gräber! – So, jetzt aber los!« Er nahm Hakan den Sack aus der Hand und entnahm ihm einen Spaten und eine Spitzhacke. Letztere drückte er dem Jungen in die Hand. »Kannst du damit umgehen?«
Hakan nickte. »Ich habe mal damit gearbeitet, in Istanbul!«
Istanbul …
Zwei Jahre hatte er in der großen Stadt verbracht, ehe er, desillusioniert und halbverhungert, nach Kalafat zurückgekehrt war. In Istanbul, hatte es geheißen, könne man noch Arbeit finden und in gewisser Beziehung hatte das auch gestimmt: Wenn man nämlich bereit war, im wahrsten Sinne des Wortes alles zu tun, für einen Lohn, der nicht einmal dazu ausreichte, den Nahrungsbedarf zu decken – von einer einigermaßen menschenwürdigen Wohnmöglichkeit ganz zu schweigen. Und wenn man sich weigerte, solch eine Arbeit anzunehmen, bekam man eben überhaupt nichts zu essen.
Außer, man stahl es sich.
»Träumst du? Das kannst du dir hier unten nicht erlauben!«
Erschrocken packte Hakan die Spitzhacke und begann, die Mischung aus Erde, Geröll und größeren Gesteinsbrocken aufzulockern, mit der der weiterführende Schacht verfüllt war. Cengiz half mit der Schaufel.
Eine Weile arbeiteten sie schweigend. Hakan fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie einen Tunnel durch den Schutt gegraben hatten. Stunden? Oder gar Tage?
Plötzlich ertönte ein Knistern und Prasseln und Cengiz stieß einen warnenden Schrei aus. Hakan konnte gerade noch einen Satz rückwärts machen, dann brach ein großer, zentnerschwerer Felsblock aus der Decke über ihm und schlug wenige Zentimeter neben ihm auf. Es hätte nicht viel gefehlt und …
So etwas muss meinem Großvater zugestoßen sein , schoss es ihm durch den Kopf. Und erst danach begann er zu zittern; er erkannte, wie knapp er soeben einem womöglich lang andauernden und schmerzhaften Sterben entgangen war.
Und zum ersten mal an diesem Tag kam ihm der Gedanke, dass er diesen Schacht vielleicht nicht mehr lebend verlassen würde.
»Pass gefälligst auf!«, schimpfte Cengiz Ay grob. »Ich habe keine Lust, hier unten zu verrecken!«
Wenn ihre Gesichter in den grellen Lichtkegeln der Helmscheinwerfer nicht sowieso weiß ausgesehen hätten, hätte der Raubgräber bemerkt, wie totenbleich der Junge geworden war. Hakan musste einige Minuten pausieren, bis er sich endlich so weit beruhigt hatte, dass seine Hände nicht mehr zu stark zitterten, um die Hacke zu fassen. Danach räumten die beiden als erstes mit vereinten Kräften den heruntergefallenen Felsbrocken aus dem Weg, bevor sie weiterarbeiteten – langsamer und vorsichtiger als zuvor.
»Da … da
Weitere Kostenlose Bücher