018 - Die Vampirin Esmeralda
war leichenblaß geworden. Ihre vor der Brust gefalteten Hände zitterten.
»Ah!« sagte Lester in die entstandene Stille hinein und lachte gekünstelt. »Sie müssen Rita sein und wollen uns die Zimmer zeigen. Sehr aufmerksam.«
Die Frau im schwarzen Umhang drehte sich auf der Treppe halb um. Der Schleier verschob sich etwas, und Lester sah darunter ein von unzähligen Narben entstelltes Gesicht. »Ich bin nicht Rita«, sagte sie mit Grabesstimme. »Mein Name ist Esmeralda.«
Lester schluckte. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals ein häßlicheres und abstoßenderes Geschöpf als diese Frau gesehen zu haben.
»Ach so«, krächzte er, faßte Tina unter und führte sie die Treppe hinauf. Sie war steif wie eine Schaufensterpuppe. Ein Blick in ihr Gesicht, das sich leicht bläulich verfärbt hatte und in dem nur ein Muskel an der Unterlippe zuckte, verriet ihm, daß sie am Ende ihrer Kräfte war. Sie konnte jeden Augenblick ohnmächtig werden. Aber das war immerhin noch besser, als wenn sie einen Schreikrampf bekommen würde.
Die häßliche Alte hatte den oberen Treppenabsatz erreicht, schlurfte mit dem Koffer einen gefliesten Korridor entlang und blieb am Ende vor einer Tür stehen. Sie sperrte auf und ließ die Tür aufschwingen. »Hier ist Ihr Zimmer«, sagte sie mit ihrer hohlen, geisterhaften und furchteinflößenden Stimme.
Lester zwängte sich mit Tina an ihr vorbei, brachte ein »Danke« hervor und stieß dann mit dem Fuß die Tür hinter sich zu, um den Anblick dieser unheimlichen Frau nicht länger ertragen zu müssen.
Tina fiel auf das Doppelbett und begann haltlos zu schluchzen. Lester hatte Mitleid mit ihr und zeigte Verständnis, doch sie wollte sich nicht berühren lassen, und langsam verdrängte der aufkeimende Ärger wieder sein Mitleid.
Endlich entspannte sie sich. Sie hob den Kopf und blickte ihn aus geröteten Augen an. »Diese Frau …«, begann sie, wurde aber sofort wieder von einem Weinkrampf überwältigt.
»Schon gut«, redete Lester ihr zu. »Sie ist kein schöner Anblick, ich weiß, aber ich bin ja bei dir. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dich wie meinen kostbarsten Schatz behüten. Denn das bist du ja.«
»Diese Frau … ist mit der Alten identisch, die uns auf der Fahrt hierher verflucht hat. Ich habe sie wiedererkannt. Da bin ich ganz sicher. Lester …«
»Blödsinn!« herrschte er sie an. »Alles nur Hysterie. Du hast Angst vor der Hochzeitsnacht, deshalb redest du dir allen möglichen Unsinn ein. Mach dich ein wenig frisch, dann gehen wir in die Bodega hinunter und trinken ein Gläschen Wein. Das wird dich von deinen Ängsten kurieren.«
»Ich bin untröstlich, Señor Nelson«, empfing sie der Wirt, als Lester mit seiner Frau in die Bodega kam. »Warum haben Sie nicht gewartet, bis ich mit Rita zurückgekommen bin?«
»War das denn nicht Ihre Frau, die uns aufs Zimmer gebracht hat?« fragte Lester zurück.
Jetzt war es an dem Wirt, verblüfft zu sein. »Eine Frau hat Ihnen das Zimmer gezeigt?« wunderte er sich. »Aber das ist …«
Lester gebot ihm durch einen Wink zu schweigen. Er hatte bemerkt, daß Tinas Gesicht schon wieder wächsern wurde und wechselte sofort das Thema. »Lassen Sie uns Ihren Amontillado kosten, damit ich herausfinden kann, ob er wirklich so gut ist, wie Sie behauptet haben.«
»Si, Señor Lester. Sie werden nicht enttäuscht sein.«
Jetzt erst fiel Lester auf, daß sich außer ihnen noch ein Gast in der Bodega befand. Er saß im Hintergrund und mit dem Rücken zu ihnen bei einem Glas Rotwein.
»Ist das der Engländer?« erkundigte sich Lester überflüssigerweise, denn er hatte am Schnitt des Anzuges sofort erkannt, daß er englischen Ursprungs war. Das Sakko spannte sich über die breite Schultern des Fremden und warf unter den Achseln Falten. Den besten Schneider hatte der Kerl bestimmt nicht. Ohne eine Antwort des Wirtes abzuwarten, nahm Lester Tina an der Hand und strebte auf den Fremden zu.
»Hallo, Landsmann!« rief er fröhlich. »Was für ein Glück, in dieser Einöde jemanden aus der fernen Heimat zu treffen! Wurden Sie auch vom Hagel überrascht? Oder wie wurden Sie in diese gottverlassene Gegend verschlagen?«
Der Fremde drehte sich langsam um. Lester blickte in ein schmales, markantes Gesicht, das von einem dichten Schnurrbart verunstaltet wurde. Er geriet sofort in den Bann der grünen Augen mit dem unergründlichen, stechenden Blick, der an Lester vorbeiglitt und sich an Tina festsog. Die Augen hatten etwas
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