0184 - Der Kraken-Götze
zu identifizieren. Birgit Sandner hatte die besten Augen. »Ich werd’ verrückt!« stöhnte sie, »der Gockel!« Richtig! Nur zehn Meter entfernt stand Hermann Zartes. Die Mädchen schnatterten durcheinander, machten sich nach diesen Stunden der Beklemmung Luft. Es war ja alles gut gegangen, der Vermißte war ja wieder da. Sicher hatte sich Hermann nur einen Scherz erlaubt.
Aber warum kam er denn nicht näher? Stumm stand Zartes da, nur seine rechte Hand deutete an, daß sie zu ihm kommen sollten.
»Hey, was ist denn los?« rief Birgit. »Komm ans Feuer und erzähl uns, wo du gesteckt hast!«
Schweigen!
Und wieder winkte Hermann Zartes.
»Nun steh doch nicht da, wie ein Ölgötze!« Doris wurde langsam ungeduldig. Aber Hermann Zartes kam nicht an das Feuer und sagte auch nichts.
Denn es war nur seine sterbliche Hülle, die vor den Mädchen stand, die Seele entrückt in die Jenseitswelt. Und die Toten können nicht reden.
»Los, komm! Sei kein Frosch«, drängte Monika Kranz. »Du hast deinen Spaß gehabt, okay. Und jetzt hock dich hin!«
Weder durch Worte noch Gesten gab Zartes Gestalt zu verstehen, daß er ! verstanden hätte. Erneut hob sich sein rechter Arm und winkte. »Kommt her zu mir«, schien diese Handbewegung sagen zu wollen, »kommt und ich zeige Euch Dinge, die ihr nie zu träumen gewagt hättet.«
Dann wollte es das böse Geschick, daß Doris, von Natur aus ungeduldig und von jedem anderen verlangend, daß er sich ihrem Willen unterordnete, beschloß, die Initiative zu ergreifen. »Komm, Birgit!« bestimmte sie, »wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muß der Berg zum Propheten kommen. Dieser sture Bock braucht anscheinend eine Eskorte!« Wortlos erhob sich Birgit Sandner. In ihrer Zweierbeziehung war Doris immer der dominierende Part. »Na, warte, Gockel«, kicherte Doris, »jetzt holen wir dich.«
Die Mädchen liefen gleichzeitig auf Zartes zu, so, als wollten sie ihm einen eventuellen Fluchtweg abschneiden. Denn der Gockel hatte sicher einen seiner bekannten Späße mit ihnen vor.
Aber das Wild wich nicht vor den Jägerinnen zurück. »Hat ihn schon!« jauchzte Birgit, die Zartes zuerst erreicht hatte. Im gleichen Moment schrillte ihr Angstschrei durch die Nacht. Hermanns Hand hatte ihren Unterarm wie ein Schraubstock umkrallt. Ungewollt traten ihr Tränen in die Augen. In der anderen Hand von Zartes aber wandt sich Doris Schuster, verzweifelt bemüht, die sie umkrallende Hand abzuschütteln. »He, spinnst du? Was soll denn das?«
Im gleichen Moment weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. Aus der Schwärze des Waldes kam langsam eine weitere Gestalt. So ging kein normaler Mensch. Doris Schuster hatte unlängst einen Film über Zombies, die lebenden Toten, gesehen. Wochenlang später hatte sie noch jeden Abend unter das Bett gesehen und sich zu Tode geängstigt.
Und jede Nacht waren ihr die Zombies im Traum erschienen. Dieser Gang, den die Gestalt aus dem Walde an sich hatte - er glich der Fortbewegung, die im Film auch die Zombies machten.
Birgit schrie noch immer gellend! Doris wußte sich nicht mehr anders zu helfen. Mit der linken, freien Hand holte sie aus und hieb eine schallende Ohrfeige in Hermanns Gesicht. Langsam wandte das, was einmal Hermann Zartes gewesen war, den Kopf. Tote, leere Augen starrten aus einem bleichen Gesicht auf das sich windende Mädchen herab.
Eine eiskalte Hand griff nach Doris Schusters Herzen.
***
Brechende Äste, Rascheln dürren Laubes. Gleich Bergtrollen kämpften sich drei Gestalten durch die Dunkelheit des Waldes. Das bleiche Licht des vollen Mondes spendete gerade soviel Helligkeit, um verschwimmende Konturen zu erkennen. Von Zeit zu Zeit wurden Rufe wie: »Hermann, wo steckst du?« oder »Gockel, melde dich! Mach mal Kikeriki!« laut.
Zamorra und die beiden Jungen durchkämmten systematisch den Wald rings um die Ruine der Burg Stolzenfels. Drei matt glitzernde Augenpaare waren bemüht, die Düsternis zu durchdringen und Hindernissen aus dem Wege zu gehen. Dicke Äste oder umgebrochene Baumstämme hatten mehrfach dafür gesorgt, daß der eine oder andere zu Fall kam. Da rutschen natürlich auch den besterzogenen jungen Leuten mal einige Kraftausdrücke über die Lippen.
So auch jetzt! Jörg Bernhard, wohl mit den Gedanken am Feuer bei seiner Monika, berechnete einen Schritt falsch. Die Baumwurzel, über die er stolperte, rutschte nicht mit wie ein einfacher, abgebrochener Ast. Im Fallen begann er, aus seinem Wachtraum gerissen, schon
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