019 - Der Sarg des Vampirs
schimmerten Stellen blanken Felsengesteins hindurch.
»Ein Hügel!«
»Es könnte auch ein Grab sein«, warf Irene ein.
»Die Form hat es. Dieser Gedanke ist auch nicht absurd. Aber andererseits:
Wer sollte hier jemanden beerdigt haben, hm? Wozu haben wir Friedhöfe?«
Francesca blickte sich um. »Und was hat es mit dem Schatten zu tun, den du
angeblich gesehen hast?«
»Ich habe ihn hier noch gesehen! Hier an dieser Stelle ist er plötzlich
verschwunden ...«
Francesca seufzte. »Deine Phantasie arbeitet ein bisschen zu stark, meine
Liebe. Vielleicht hast du wirklich etwas gesehen, den Schatten der Blätter oder
den eines Baumes.«
»Es war der Schatten eines Menschen, Francesca, und wenn ich sage ...«
Weiter kam Irene nicht.
Ein Geräusch erklang – ein dumpfes Kratzen, dann ein leises fernes Poltern,
als wäre ein schwerer Gegenstand gegen eine Felswand geprallt.
Francesca und Irene hielten den Atem an. Das Geräusch verebbte ...
»Es ist nichts«, sagte Francesca. »Ein Stein, der irgendwo in den Bergen
heruntergefallen ist, vielleicht, weil ein Tier dagegen stieß. Ich habe mich
schon fast von deiner Ängstlichkeit anstecken lassen. Wir benehmen uns heute
wirklich komisch, findest du nicht auch?«
»Nein, keineswegs!«, stieß Irene aufgebracht hervor. »Ich werde das Gefühl
nicht los, dass jemand in unserer Nähe ist, Francesca! Ich spüre förmlich
Blicke, die auf uns gerichtet sind.«
»Warte hier auf mich! Wenn uns wirklich ein Strolch auf den Fersen ist,
dann werde ich ihn auch finden, darauf kannst du dich verlassen!« Francesca
musste zugeben, dass sie die Freundin selten so nervös und gereizt gesehen
hatte.
»Was hast du vor?«
»Ich suche deinen Schatten und nehme sicherheitshalber die Gaspistole mit.«
Irene sah sie in der Dämmerung hinter dem Dickicht verschwinden, das einen
Teil eines unwegsamen Pfades und große Felsblöcke verdeckte.
Zweige knackten, ein Tier huschte in der Düsternis davon, und Irene
lauschte auf die Schritte, die sich entfernten. Sie erstarrte, als sie ein
Knirschen vernahm und bemerkte, woher es kam – direkt unter ihren Füßen, aus
der Tiefe des geheimnisvollen Grabes. »Francesca! Komm zurück!«, schrie sie.
»Gleich, Irene. Ich bin gerade auf dem Pfad!« Die Stimme der Freundin klang
weiter entfernt, als sie in Wirklichkeit war.
Irene spürte, dass sich etwas hinter dem Dickicht bewegte.
Es war Francesca.
Sie stand auf dem steinigen Weg, der steil nach oben führte. Der Schatten
einer vorspringenden Felswand lag über ihr, berührte ihren Kopf und ihre
Schultern wie mit einer großen, überdimensionalen Hand ... Und dann sah sie
wirklich eine Hand! Sie tauchte blitzschnell vor ihr auf und presste sich auf
ihren Mund. Francesca wurde in den stockfinsteren Höhleneingang gezerrt. Sie
schlug um sich, wollte die Gaspistole abdrücken, doch ein kräftig geführter
Schlag riss sie ihr aus der Hand.
●
Der Diener – in Livree – geleitete Larry Brent durch das Haus des Herzogs.
Der PSA-Agent hielt sich seit geraumer Zeit in Spanien auf. Larry sollte mit
dem letzten männlichen Nachkommen einer bis in das 15. Jahrhundert reichenden
adeligen Familie Kontakt aufnehmen. Das Anwesen des Herzogs lag etwa
dreihundert Meter über dem Flachland auf einer Felszunge, die wie ein riesiger Stalagmit aus dem Boden vor dem Hintergrund der Sierra de
Guadalupe ragte. Hohe Bäume, Pappeln und Zypressen, umstanden das Gelände wie
eine Festungsmauer. Die riesigen Gewächse waren auf erhöhten Erdschichten vor
langer Zeit angepflanzt worden.
Es gab zahllose einfache und zum Teil gefährliche Wege, die zum Schloss des
Herzogs führten, aber auch eine ausgebaute Straße, auf der sich die Autoschlangen
und Touristenbusse vorwärtsbewegten, die täglich Tausende von Besuchern
brachten. Die Gebäude waren als Museum, Gemäldegalerie und Kulturräume
eingerichtet worden. Die Touristen brachten dem letzten, der den Namen de Avilla trug, genügend Geld, um die kostspieligen Anlagen zu
unterhalten und ihm und seiner Familie ein Leben ohne Sorge zu bieten.
Larry Brent bekam Räume zu Gesicht, die dem Normalsterblichen stets
verschlossen blieben. Der Trakt, durch den er lief, war für den Publikums- und
Touristenverkehr nicht zugänglich. Seit drei Tagen war auch das gesamte Gelände
für den Reise- und Besichtigungsverkehr gesperrt. Sogar das kleine Gasthaus im
ehemaligen Jagdzimmer war geschlossen. Der Herzog hatte seine Entscheidung
damit begründet, dass umfangreiche
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